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REVIEW KINO: „Der Schatten des Kommandanten“

Erschütternder Dokumentarfilm über die Kinder und Enkel des Auschwitz-Lagerkommandanten Rudolf Höß.

CREDITS:
O-Titel: The Commandant’s Shadow; Land / Jahr: Großbritannien 2024; Laufzeit: 102 Minuten; Regie, Drehbuch: Daniela Völker; Verleih: Warner Bros.; Start: 13. Juni 2024

REVIEW:
„Mein Vater war Rudolf Höß. Er war Lagerkommandant von Auschwitz“, hört man Hans Jürgen Höss gleich zu Beginn von „Der Schatten des Kommandanten“ sagen. Da hat man gleich einen Kloß im Hals. Weil der 87-Jährige es so selbstverständlich sagt, wie man es wohl sagt, wenn man von seinem Vater spricht. Weil man natürlich sofort an „The Zone of Interest“ denken muss, Jonathan Glazers vierfach oscarprämierte Versuchsanordnung über das Leben der Familie Höß in ihrem hübschen Häuschen mit Garten direkt an der Mauer zu dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau – ein Film, der eine besondere Seherfahrung ist und einen den Schrecken des Holocaust aus einem ganz anderen Blickwinkel verstehen lässt. Und nun hört man einen 87-jährigen Mann sagen, als wollte er schnell noch bestätigen, was man in „The Zone of Interest“ gesehen hatte: „Ich hatte eine schöne und idyllische Kindheit in Auschwitz.“

Maya Lasker-Wallfisch, Kai Höss und Hans Jürgen Höss besuchen gemeinsam Auschwitz (Credit: Warner Bros.)

Um die Vergangenheit und den Umgang mit der Vergangenheit geht es schließlich in dem Dokumentarfilm der in London lebenden deutschen Filmemacherin Daniela Völker: Wie konnte Hans Jürgen Höss mit dem Wissen um seinen Vater leben? Wie hat er gelebt? Und was hat er gewusst? Aber der Film zieht noch weitere Kreise, als dem alten Mann zu folgen und ihm zuzuhören, was er zu erzählen hat. Sein ältester Sohn Kai rückt zusätzlich in den Mittelpunkt, der als Pastor einer englischsprachigen Bibelgemeinde in Deutschland lebt und sich keinen Illusionen hingibt, wer sein Großvater war: „Es ist ein nicht von der Hand zu weisender Fakt, dass mein Großvater der größte Massenmörder in der Geschichte der Menschheit ist.“ Gemeinsam konfrontieren die beiden Männer, Vater und Sohn, wer Rudolf Höß war, was er getan hat. Anders als Hans Jürgen Höss‘ ältere Schwester, die man ebenfalls sieht, leugnen sie nichts. Und man spürt, wie schwer es ihnen fällt, Worte für ihre Gefühle zu finden. 

Der Film verwendet Archivmaterial und Familienfotos, um durch die biographischen Eckdaten des Kommandanten zu gehen, von seiner Kindheit bis zu seiner Hinrichtung, und nutzt dessen handschriftliche Aufzeichnungen zur im Gefängnis entstandenen Autobiographie als Rahmen, die von einem Sprecher eingesprochen werden: Es ist ein Geständnis, keine Rechtfertigung. Und unterfüttert, wie die Familie Höss mit der Schuld umgeht, die auf ihren Schultern lastet. Parallel dazu sieht man als Gegengewicht eine Mutter und ihre Tochter: die 1925 geborene Anita Lasker, die in Auschwitz im Mädchenorchester nur wenige Schritte von der Gaskammer entfernt spielen musste, und Maya Lasker-Wallfisch, die sich in zwei Büchern mit ihrer Verantwortung als Tochter einer Holocaust-Überlebenden auseinandergesetzt hat. Der Film steuert auf den Moment zu, an dem die beiden Frauen Hans Jürgen Höss und Kai Höss gegenüberstehen. Es ist ein Moment, bei dem man den Atem anhält. „Der Sohn vom Kommandanten von Auschwitz sitzt im Haus von Anita Lasker. Wie ist das möglich?“, sagt die fast 100-jährige Frau. Das Gespräch, das folgt, brennt sich in die Erinnerung ein: Wie da Einigkeit herrscht, dass das, was im Dritten Reich geschehen ist, nie wieder passieren darf und es doch nicht ausgeschlossen ist in unserer Gegenwart, berührt einen tief. „In a way, it was beautiful“, kommentiert Anita Lasker-Wallfisch das Treffen im Anschluss. Blende auf Schwarz.

Thomas Schultze