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REVIEW STREAMING: „Aus Mangel an Beweisen“

Neuverfilmung des legendären Justizthriller-Bestsellers von Scott Turow, in der ein verheirateter Staatsanwalt beschuldigt wird, seine Geliebte bestialisch umgebracht zu haben. 

CREDITS: 
O-Titel: Presumed Innocent; Land/Jahr: USA, 2024; Laufzeit: 8 x 45 Minuten; Drehbuch: David E. Kelley, Sharr White, Miki Johnson; Regie: Anne Sewitsky, Greg Yaitanes; Besetzung: Jake Gyllenhaal, Ruth Negga, Bill Camp, Renate Reinsve, Peter Sarsgaard, O-T Fagbenle, Chase Infinite, Kingston Rumi Southwick, Elizabeth Marvel, Nana Mensah; Plattform: Apple TV+; Start: 12. Juni 2024

REVIEW:
Seit fast vierzig Jahren verhandelt David E. Kelley in Serien von „L.A. Law“ bis „The Lincoln Lawyer“ unermüdlich den ewigen Widerspruch zwischen Recht und Gerechtigkeit auf dem Bildschirm. Nun hat sich der mehrfache Emmy-Preisträger einen Fall vorgenommen, der schon einmal für Aufsehen gesorgt hat: die Geschichte des Chicagoer Staatsanwalts Rusty Sabich, der des brutalen Mordes an seiner Kollegin Carolyn Polhemus angeklagt wird und zum Opfer des Systems wird, dem er jahrelang gedient hat. Alan J. Pakula machte daraus mit Harrison Ford in der Hauptrolle einen der besten Justizthriller aller Zeiten und Schriftsteller Scott Turow, auf dessen Debütroman die Story basiert, zum Bestsellerautor. „Aus Mangel an Beweisen“ war einer der erfolgreichsten Filme des Jahres 1990, ein hochspannendes Drama über die Verstrickungen von Macht und Politik, Sex und Korruption, eine fesselnde Charakterstudie mit einer unheimlich paranoiden Atmosphäre und einer Schlussszene wie ein Schlag in die Magengrube. 

„Aus Mangel an Beweisen“ mit Jake Gyllenhaal und Bill Camp (Credit: Apple)

Die Neuinterpretation dieses Krimis ist David E. Kelleys erste Serie für Apple, produziert mit J.J. Abrams’ Bad Robot Productions, Anne Sewitsky („A Very British Scandal“) führte bei den ersten beiden, Greg Yaitanes („Damages – Im Netz der Macht“) bei den übrigen sechs Episoden Regie. Das Drehbuch, das Kelley zusammen mit Sharr White („The Affair“) und Miki Johnson („Ozark“) verfasst hat, folgt wie die Kinoversion der verschachtelten Erzählstruktur von Turows Roman, arbeitet die verhängnisvolle Affäre in Rückblenden auf, und kommt schneller zur Sache, als irgendjemand Einspruch erheben kann. In ihrer Wohnung wird die Leiche von Carolyn Polhemus aufgefunden, blutüberströmt, Hände und Füße auf dem Rücken gefesselt. Von „der spitzen Waffe“, mit der sie erschlagen wurde, fehlt jede Spur, dafür ist der Tatort mit Fingerabdrücken von Rusty Sabich übersät, der, wie sich herausstellt, geradezu besessen von seiner Kollegin war. Anklage wird erhoben, sein Haus wird durchsucht, der eben noch so glaubwürdige Gesetzeshüter muss sich in einer Abfolge peinlichster Situationen vor seinen Mitarbeitern und seiner Familie erklären, seine Karriere, seine Ehe, alles steht auf dem Spiel, während er vehement seine Unschuld beteuert und versucht, den wahren Mörder zu finden.

David E. Kelley hat diese Geschichte selbst bereits in mehreren Varianten erzählt, etwa in „The Undoing“ oder „Anatomie eines Skandals“, die jetzt wie Fingerübungen wirken im Vergleich zu dem quintessenziellen Justizthriller, den er hier vorlegt: „Presumed Innocent“ ist großes Kino, der Super Bowl der Mordprozesse, wie es darin so schön heißt,noch hochwertiger, noch schneller, noch aufregender, als man es von Kelley gewohnt ist. Die Serie ist eine wahre Hommage an das Genre mit den aufwühlendsten Cliffhangern seit „Better Call Saul“. Die unzähligen Twists, die bedrohlich wabernde Hintergrundmusik, der hektische Schnitt, die unruhige Kameraführung, die Unschärfen – alles ist nervös, alles gerät aus dem Gleichgewicht. Die sepiagetönten Szenen im Gerichtssaal mit ihren unterschwelligen, persönlichen Konflikten, strategischen Manövern und politischen Machtkämpfen gehören zu den spannendsten, die man je gesehen hat, vom bravourös inszenierten, gladiatorenhaften Einzug der Verteidiger und Geschworenen in die heiligen Hallen der Justiz bis hin zur Begegnung der gegnerischen Parteien auf der Toilette. Sämtliche Charaktere scheinen irgendetwas zu verbergen, sogar die Kinder des Angeklagten sind im strafmündigen Alter oder werfen Curvebälle mit einer Wucht, die misstrauisch machen sollte.

Zum fabelhaften Ensemble gehören „ususal suspects“ wie Bill Camp als Rustys ehemaliger Vorgesetzter und nun Verteidiger Raymond Horgan, Elizabeth Marvel ist wie im wahren Leben Camps Ehefrau, O-T Fagbenle sein intriganter Widersacher Nico Della Guardia. Da die meisten ursprünglich männlich angelegten Nebenfiguren selbstverständlich mit Frauen besetzt wurden, gewinnt die Story eine weibliche Perspektive hinzu, und weil wir uns nicht mehr in den 1990ern befinden, ist Carolyn Polhemus mitnichten die Femme Fatale, die sich in ihrem Job hochschlafen und dafür büßen muss.Renate Reinsve, die so toll war in „Der schlimmste Mensch der Welt“, und die cool und edgy und eben nicht vordergründig sexy ist, ist auch hier ausschließlich als Rustys Vision in Flashbacks zu sehen, aber ihre Anziehungskraft geht weit über das Körperliche hinaus, es ist ihre Brillanz und Klarheit, die sie von der betrogenen Ehefrau unterscheidet. Barbara ist feinfühlig, emotional, Künstlerin (sie arbeitet in einer Galerie wie gefühlt jede interessante, berufstätige Mutter im aktuellen US-Kino), und Ruth Negga verkörpert sie gänzlich herzzerreißend, mit bebenden Lippen und stummem Entsetzen in den angstgeweiteten Augen, hin- und hergerissen zwischen den eigenen Bedürfnissen und der Loyalität zu Rusty, was unter anderem in Sitzungen bei ihrer Psychiaterin (Lily Rabe) ausführlich erörtert wird. Hier und da gerät das ansonsten atemberaubende Erzähltempo kurz ins Stocken, etwa wenn sich Raymond und Lorraine am Frühstückstisch über den Prozess unterhalten, was ein wenig so wirkt, als wolle das „hardest working couple“ Elizabeth Marvel und Bill Camp endlich mal wieder Zeit miteinander verbringen. Letztlich aber verfolgen auch diese Szenen vorrangig das Ziel, den Zuschauer mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass der „charming guy“ Rusty Sabich durchaus zu einem bestialischen Mord fähig sein könnte.

Jake Gyllenhaal, der mit seiner Filmauswahl in den letzten Jahren dafür gesorgt hat, dass man ihm ohnehin alles abnimmt, und der gerade erst im „Road House“-Remake ein Dutzend Biker krankenhausreif geprügelt hat, ohne eine Schramme davon zu tragen, ist die unbestreitbare Idealbesetzung. Er leidet nicht so stoisch wie Harrison Ford, sein Vorgänger in Pakulas Adaption des Thrillers. Scham und Reue stehen ihm noch deutlicher ins Gesicht geschrieben, und hinter seinem intensiven, flehenden Dackelblick verbirgt sich wie üblich ein Anflug von Wahnsinn. Das Drehbuch macht keinen Hehl daraus, dass er unter den seriösen Maßanzügen nach wie vor im Körper eines Actionhelden steckt, seine Muskeln sind ein weiteres Requisit, um Zweifel an Rustys Integrität zu säen. Die Kamera filmt ihn hinter Fensterscheiben, Brillengläsern, unter Wasser, als wäre seine Wahrnehmung verschwommen. Mit der Zeit kann man kaum noch unterscheiden, ob die aggressiven, hemmungslosen Sexszenen, die verstörenden Bilder vom Tatort Erinnerungen sind oder Albträume. Während sich die Schlinge immer enger um seinen Hals legt, angezogen von dem mysteriösen Staatsanwalt Tommy Molto, verliert er schließlich immer häufiger die Fassung – und es gibt einfach keinen Schauspieler, dem man beim Verzweifeln lieber zusieht als Jake Gyllenhaal. 

Sein schärfster Gegner, eben dieser narzisstische Tommy Molto, ist die Verkörperung all dessen, was man am Rechtsystem verachten muss, in dem jeder manipuliert, fälscht, die Wahrheit verzerrt, und Peter Sarsgaard spielt ihn mit ungeheuerlicher Präzision. Nichts an dieser Figur wirkt echt, die heuchlerische Betroffenheit, das verlogene Mitgefühl, Molto ist ein Method-Manipulierer, er fällt nicht einen Moment aus seiner Rolle. „It’s all about Storytelling“, heißt es an einer Stelle, vor dem Gericht zählt nicht die Wahrheit, sondern auf welcher Seite der bessere Schauspieler die überzeugendere Geschichte erzählt. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass David E. Kelleys Version nicht nur mit einem dramatischen Duell im Gerichtssaal endet, sondern genau wie die Romanvorlage mit einem heftigen Schlag in die Magengrube. Denn selbst nach sieben nervenaufreibenden Episoden, die Apple vorab gezeigt hat, weiß man noch immer nicht, worauf das alles hinauslaufen soll. 

Corinna Götz