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REVIEW KINO: „The End We Start From“

Eindringliches Survivaldrama nach Bestsellervorlage, in dem eine junge Frau sich mit ihrem Baby durch ein postapokalyptisches England kämpft.

CREDITS:
O-Titel: The End We Start From; Land/Jahr: UK, 2023; Laufzeit: 106 Minuten; Regie: Mahalia Belo; Drehbuch: Alice Birch; Besetzung: Jodie Comer, Joel Fry, Nina Sosanya, Mark Strong, Katherine Waterston, Benedict Cumberbatch, Gina McKee; Verleih: Universal Pictures; Start: 30. Mai 2024


REVIEW:
Langsam füllt sich eine Badewanne, immer lauter wird das Plätschern von Regen übertönt, der gegen Fensterscheiben prasselt, das Wasser steigt unaufhörlich – bis die komplette Leinwand rauschend darin zu versinken scheint. Die erste Einstellung des Films ist die sehr poetisch anmutende Ankündigung einer Katastrophe, deren Vorboten die hochschwangere, namenlose Frau (Jodie Comer) im Hintergrund erstaunlich unbekümmert lassen. Am Telefon macht sie sich über die Nachbarn lustig, die in Panik die Londoner Innenstadt verlassen, und schmiedet Pläne fürs Abendessen. Das durch den Türspalt eindringende Wasser bemerkt sie erst in dem Moment, in dem der Fernseher ausfällt – und die Wehen einsetzen. Dann geht alles ganz schnell. Es ist zu früh, stöhnt sie kurz darauf im Kreißsaal. Mit brachialer Gewalt kommt draußen die Flut, drinnen das Kind, und mit einem Wimpernschlag ist alles anders. Als sie nach der Entbindung mit ihrem Partner R (Joel Fry) das Krankenhaus verlassen muss, gleicht die City bereits Venedig. In ihre Wohnung können sie nicht zurück, es bleibt nur die Flucht aufs Land zu Rs Eltern. Doch innerhalb kürzester Zeit verschlechtert sich die Versorgungslage, es kommt zu einer schrecklichen Tragödie, in der Notunterkunft gibt es kaum noch Platz. Das Paar wird getrennt, bevor die Situation auch hier eskaliert. In O (Katherine Waterston), die ebenfalls gerade ein Baby bekommen hat, findet die Frau schließlich eine Verbündete. Gemeinsam machen sie sich zu Fuß auf den Weg zu einer Kommune, die sich auf einer Insel vor der englischen Küste von allem abgeschottet hat.

The End We Start From“ ist das Kinodebüt der britischen Regisseurin Mahalia Belo, die Vorlage lieferte der gleichnamige dystopische Roman von Megan Hunter aus dem Jahr 2017, der gerne als weibliches Pendant zu Cormac McCarthys Bestseller „Die Straße“ beschrieben wird. Während letzterer 2009 von John Hillcoat als postapokalyptischer Sci-Fi-Thriller verfilmt wurde, kommt Belos Adaption zu einem Zeitpunkt in die Kinos, an dem die Dystopie schon fast Realität geworden ist. Die Aufnahmen der überfluteten Metropole erinnern stark an Bilder, die man gerade erst in den Nachrichten gesehen hat, vieles an den sinnlichen Naturalismus von Terrence Malick. Zusammen mit Drehbuchautorin Alice Birch („Succession“, „Dead Ringers“) und einem komplett weiblichen Team hinter der Kamera hat Belo den lyrischen Stil von Hunters Novelle kongenial auf die Leinwand übertragen. Vordergründig eine Survival-Story über die Folgen des Klimawandels und die Frage, wie Menschen damit umgehen, ist „The End We Start From“ ein kontemplativer Film über das Muttersein aus der Perspektive einer jungen Frau, über die die Geburt ihres Kindes wie eine Naturgewalt hereinbricht. 

Die Doppeldeutigkeiten und die Symbolik von Wasser und Wiedergeburt durchziehen die gesamte Handlung. Wie in der Romanvorlage sind die Dialoge oft fragmentarisch, der Look ist ungeschönt realistisch, wolkenverhangen trüb. Der atmosphärisch anschwellende Synthesizer-Score mischt sich mit peitschendem Wind, grollendem Donner, trommelndem Regen, Bäume und Sträucher scheinen fast hörbar in die Höhe zu schießen. Nach einer Weile wird alles immer wässriger, der Himmel grauer, aus Grün wird Braun. In der aufgeweichten Erde rottet es vor sich hin, der Wald knirscht und knarzt unheilvoll, euphorisches Vogelgezwitscher weicht bedrohlichem Krächzen, irgendwann ist es still. Noch schneller, als sich die Landschaft verändert, brechen überall dort, wo sich Menschen versammeln, Chaos und Gewalt aus. Während R und alle anderen männlichen Charaktere kaum in der Lage sind, sich selbst zu retten – sie sind traumatisiert, betteln um Hilfe, greifen zur Waffe, können nicht einmal schwimmen – weiß die Mutter intuitiv, was zu tun ist. Um ihr Kind zu beschützen, übernimmt sie buchstäblich das Steuer, kämpft sich durch die wütende Menge bei der Lebensmittelverteilung, versucht, die Familie zusammenzuhalten, unterdrückt Erschöpfung, Verzweiflung, Panik.

So instinktiv und selbstvergessen, wie die Frau ihr Baby durch halb England trägt, trägt die unglaubliche Jodie Comer den Film auf ihren Schultern. Die größte Herausforderung für ihre Figur scheint nicht das Chaos um sie herum zu sein, sondern ihre innere Verlorenheit. Sie hat ständig diesen suchenden Blick, hält es weder in dem Stacheldraht-umzäunten Notaufnahmelager aus noch in der Kommune unter „lauter reichen Menschen, die Sauerteig machen“. Selbst O, die ihr mit ihrer Willensstärke zur Seite steht, kann ihr nicht die Angst davor nehmen, unterzugehen. Das ist alles nicht ihre Natur. „Ich bin gerne drinnen. Ich gehe gerne in Geschäfte und Restaurants und bestelle Essen von Speisekarten, die jemand anderes gekocht hat“, sagt sie zu R, als sie sich kennen lernen, und mehrfach wird zurückgeblendet in die neonbeleuchtete Bar, in der sich die beiden verliebt haben. Daran erinnert auch die wegweisende Begegnung mit einem anderen Überlebenden. AB (ein Cameo-Auftritt von Benedict Cumberbatch, der das Projekt mit seiner Firma SunnyMarch produziert hat) teilt mit den beiden Frauen in einer Nacht sein Essen und eine Flasche Wodka, und es gibt eine ganz wundervolle Szene, in der sie neben dem flackernden Lagerfeuer wie im Discolicht zusammen tanzen, als wären sie zu Hause statt auf der Flucht (die melancholische Elektrohouse-Nummer „Can’t Do Without You“ von Caribou hat hier dann auch ihre Bestimmung gefunden). 

Als sie irgendwann nach einer zermürbenden Odyssee tatsächlich wieder dort ankommt, wo alles angefangen hat, ist nichts mehr, wie es war. London ist verwüstet. Ihre Beziehung zu R kaputt wie die Fensterscheiben der Wohnung. Aber es ist immer noch schön, stellt sie fest, schon beinahe wieder ganz bei sich – und dann macht ihr unbeirrt fröhliches Baby seine ersten Schritte. Und das ist dann auch die hoffnungsvolle Antwort auf die Frage, ob und wofür es sich zu kämpfen lohnt. 

Corinna Götz