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REVIEW VENEDIG: „September 5“

Atemloser Thriller in Real-Time-Anmutung, der die Ereignisse vom 5. September 1972 bei den Olympischen Spielen aus der Sicht der Reporter von ABC Sports erzählt. 

CREDITS:
Land / Jahr: Deutschland / USA 2024; Laufzeit: 95 Minuten; Regie: Tim Fehlbaum; Drehbuch: Tim Fehlbaum, Moritz Binder; Besetzung: Leonie Benesch, John Magaro, Peter Sarsgaard, Ben Chaplin; Verleih: Constantin Film; Start: 7. November 2024

REVIEW:
Als der amerikanische Fernsehsender ABC Sport 1972 in München seine Zelte aufschlug, um von den Olympischen Spielen zu berichten – den ersten Olympischen Spielen auf deutschem Boden seit Ende des Zweiten Weltkriegs, mit denen sich Deutschland als verändertes, geläutertes, weltoffenes Land präsentieren wollte –, sollten Maßstäbe gesetzt werden, zu was Sportberichterstattung mit modernsten Mitteln fähig ist. Ein eigenes Studio wurde errichtet, zwischen den Sportstätten und dem Olympischen Dorf. Man wollte immer vor Ort sein, wollte immer live berichten, so umfassend und hautnah wie nur möglich, nackte Sportberichterstattung mit human stories anreichern. So gut man auch vorbereitet war, so perfekt man auch ausgerüstet war, mit den besten Moderatoren und Journalisten, die man für Geld kaufen kann: Der Überfall einer Gruppe PLO-Terroristen des „Schwarzen September“ früh morgens auf die israelische Equipe, die folgende Geiselnahme, der belagerungsartige Nachmittag, ein abgebrochener Befreiungsversuch, die sich überschlagenden Ereignisse später am Flughafen Fürstenfeldbruck, all das kam unerwartet und stellte die anwesenden ABC-Fernsehleute vor eine Vielzahl von Dilemmas, während sich nur wenige hundert Meter entfernt von ihnen eine Tragödie abspielte – Dilemmas logistischer, journalistischer, moralischer und ethischer Natur. 

Tim Fehlbaums „September 5“ (Credit: Constantin Film)

„Der Tag, an dem der Terror live ging“ lautet der etwas plakative Untertitel des dritten Spielfilms von Tim Fehlbaum, der aber doch punktgenau wiedergibt, worum es gehen wird in den sensationell kompakten und spannenden 90 Minuten des Films. Nach den expansiven dystopischen Welten von „Hell“ und „Tides“ hat der Schweizer Filmemacher nun die größte denkbare Enge und Kompaktheit als Leinwand gewählt: Für die Laufzeit von „September 5“ ist man hautnah dabei, embedded regelrecht, in die Ereignisse dieses schrecklichen Tages, so geschickt konstruiert, choreographiert und schließlich geschnitten (Meisterleistung, wie gewohnt: Hansjörg Weißbrich), dass sich dieser Thriller anfühlt, als würde er sich in Realzeit abspielen – wobei er doch die Ereignisse eines ganzen Tages abdeckt. Man beginnt den Film mit dem ABC-Produktionsassistenten Geoff Mason, gespielt von dem großartigen John Magaro, sehr angesagt seit „First Cow“ und „Past Lives“ und in Kürze in einer weiteren deutschen Produktion zu sehen, als Keith Jarrett in „The Girl from Köln“, der sich gegen 4 Uhr auf den Weg macht zum Studio des Senders und zu den ersten gehört, der von den Schüssen erfährt, die um 4 Uhr 40 in der Conollystraße 31 fallen. 

Danach ist der Film pure Raserei. Mit einer Kombination wirbelnder Kamerafahrten (Top: Tim Fehlbaums angestammter Bildgestalter Markus Förderer) und eines unablässigen Schnittstakkatos wird man als Zuschauer:in konfrontiert mit der desorientierenden Situation, im Laufschritte werden die weiteren entscheidenden Player vorgestellt, der von Ben Chaplin gespielte Marvin Bader, VP of Olympic Operations, und schließlich Strippenzieher Roone Arledge, der wahre Architekt der modernen Fernsehsportberichterstattung, bei dem die Fäden zusammenlaufen – eine Paraderolle für Peter Sarsgaard, der vor einem Jahr in Venedig die Coppa Volpi als bester Darsteller erhielt für seine Leistung in Michel Francos „Memory“. Wie diese zum Teil gestandenen und mit allen Wassern gewaschenen Journalisten ist auch die deutsche Übersetzerin Marianne Gebhard, Leonie Benesch in ihrer ersten großen Rolle seit „Das Lehrerzimmer“, zur Passivität verdammt, während sich nur ein paar hundert Meter von ihnen entfernt die Tragödie entfaltet, die man parallel auf den vielen Bildschirmen im Kommandozentrum mitverfolgen kann. „September 5“ ist pure Raserei zu Beginn. Und bleibt auch pure Raserei nach dem furiosen Einstieg. Tim Fehlbaum tut einem nicht den Gefallen, das Tempo zu verringern und sich auf eine klare Hauptfigur zu konzentrieren. Vielmehr rücken verschiedene Figuren ins Zentrum, reichen die Staffel weiter wie in einem Spurt, immer der aktuellen Situation angepasst.

Die Atemlosigkeit ist Programm, unterstreicht die Einzigartigkeit dieser Ausnahmesituation, in der im Minutentakt Entscheidungen getroffen werden müssen, stets anhand einer bisweilen unübersichtlichen Informationslage. Tim Fehlbaum und seine Mitstreiter machen das hervorragend, der Effekt ist erstaunlich: Man bekommt ganz hautnah eine Vorstellung davon, wie es gewesen sein muss, in diesem Moment, an diesem Ort, als alles möglich schien. Und die Fernsehjournalisten dann tatsächlich durch ihre Live-Berichterstattung womöglich dazu beitragen, dass ein plumper Befreiungsversuch der Münchner Polizei am Nachmittag abgebrochen werden muss. Es ist nicht belegt, aber man geht davon aus, dass die Terroristen selbst auf dem Fernseher mitverfolgten, wie sich die bewaffneten Beamten ihnen näherten. „September 5“ stellt nachhaltige Fragen über die Verantwortung von Journalismus, über eine Welt, die an allen Brandherden auf dem Globus immer live mit dabei ist. Aber vor allem, und das ist entscheidend, ist der Film ein stupender Thriller, so überzeugend und zwingend umgesetzt, dass man um das Schicksal der Geiseln bangt, obwohl man doch eigentlich weiß, wie die Geiselnahme ausgehen wird. Hut ab, auch vor den Produzenten Thomas Wöbke und Philipp Trauer von BerghausWöbke, vor dieser beeindruckenden Leistung.

Thomas Schultze