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REVIEW VENEDIG: „Diva Futura“

Italienische Antwort auf „Boogie Nights“: die Geschichte von Aufstieg und Fall der Porno-Agentur Diva Futura, 1983 gegründet von Riccardo Scicchi und Ilona Staller.

„Diva Futura“ von Giulia Louise Steigerwalt (Credit: Lucia Iuorio)

CREDITS:
Land / Jahr: Italien 2024; Laufzeit: 128 Minuten; Regie & Drehbuch: Giulia Louise Steigerwalt; Besetzung: Pietro Castellitto, Barbara Ronchi, Denise Capezza, Tesa Litvan, Lidija Kordić, Davide Iachini, Marco Iermanò

REVIEW:
Diva Futura hat italienische Kulturgeschichte geschrieben: 1983 von Riccardo Schicchi und Ilona Staller, auch bekannt als Cicciolina, gegründet, um nicht länger vom Wohlwollen der Zeitungen und Fernsehsender abhängig zu sein, um ihre Botschaft von freier Liebe propagieren zu können, war die Agentur bis in die Neunzigerjahre eine treibende Kraft, neben Staller auch Moana Pozzi und Eva Henger zu Pornostars werden zu lassen. Wie man sich denken kann, ranken sich zahllose Legenden um die Firma, gibt es noch mehr Anekdoten und verrückte Geschichten über diese unkonventionellen und eigenwilligen Gestalten zu erzählen, lassen sich aber auch all die Widersprüche thematisieren, die sich wie von selbst ergeben, wenn eine Firma oder Organisation für die Befreiung der Frauen einsetzt, indem sie ihren Körper als Ware verkauft. 

„Diva Futura“ von Giulia Louise Steigerwalt (Credit: Lucia Iuorio)

Aber zunächst einmal ist die zweite Regiearbeit von Schauspielerin und Autorin Giulia Louise Steigerwalt, die für ihr Regiedebüt „Settembre“ bei den letztjährigen David Di Donatellos als beste Nachwuchsregisseurin ausgezeichnet wurde und jetzt erstmals im Wettbewerb eines A-Festivals vertreten ist, ein beschwingter Ritt mit entfesselter Kamera und wilden Sprüngen durch die Zeit, die sich rein dramaturgisch nicht immer erschließen. Vielleicht, weil es so viel zu erzählen gibt und man gar nicht weiß, wo man anfangen oder aufhören soll. Da ist die Boa Constrictor, mit der sich Ilona Staller einst ablichten ablichten ließ und die in einem Terrarium in einem Zimmer des Büros von Diva Futura lebte, bis eine eigentlich als Futter gedachte Ratte ihr den halben Kopf abnagte. Da sind die 23 Katzen, die Riccardo Schicchi in einem anderen Zimmer hält. Da sind die Versuche von Moana Pozzi, sich bei den Bürgermeisterschaftswahlen in Rom mit stramm konservativen Ansichten als Kandidatin aufstellen zu lassen. Da sind die Ausflüge der gesamten Mannschaft an den Strand, wo man Hindernisrennen mit überdimensionierten Plastikpenissen spielt. Da sind die fortwährenden Razzias der Polizei, die es besonders auf Diva Futura abgesehen zu haben scheint. 

„Diva Futura“ von Giulia Louise Steigerwalt (Credit: Lucia Iuorio)

Am schönsten ist der Film, wenn er pures Fabulieren und Zeigen ist, man den Figuren von einer verrückten Eskapade zur nächsten folgt in dieser italienischen Antwort auf „Boogie Nights“, die ganz liebevoll mit ihren Figuren umgeht, sie nie bloßstellt, ein großes Herz für sie hat. Am liebevollsten geht „Diva Futura“ mit Firmengründer Schicchi um, gespielt von Pietro Castellitto, nach „Freaks Out“ (2021) und „Enea“ (2023) zum dritten Mal binnen vier Jahren im Wettbewerb von Venedig, als Träumer und Idealisten, als Charmeur und Romantiker, der nie so richtig den Boden zu berühren scheint und zwar Ideen im Überfluss hat, aber auch nicht wirklich gemacht ist für das pure Geschäft: Mit seinen blumigen Pornofilmen legt er den Grundstein für ein Business, das nicht immer so liebevoll und zart mit seinen Darstellerinnen umgeht, wie Schicchi es tut. „Wir sind amoralisch, nicht unmoralisch“, sagt Schicchi wiederholt. Natürlich führt das auch zum Untergang von Diva Futura, dieser Erotik-Utopie: Zu gut für diese Welt. 

„Diva Futura“ von Giulia Louise Steigerwalt (Credit: Lucia Iuorio)

Aber auch die anderen tragischen Momente werden nicht ausgespart in dieser Adaption der Memoiren von Debora Attanasio, die zehn Jahre als Sekretärin so etwas wie die gute Seele der Agentur war, gespielt von Barbara Ronchi, die in diesem Jahr in Venedig schon in dem skurrilen Eröffnungsfilm der Orizzonti zu sehen war, „Nonostante“: der viel zu frühe Krebstod von Moana Pozzi im Alter von 33 Jahren, das gesundheitliche Siechtum von Riccardo Scicchi, mit dessen Tod 2012 eine ganze Ära zu Ende ging. Man schaut gerne zu bei diesem Film, dem mehr einfällt, als es seine dramaturgische Struktur wirklich verträgt. Aber warum soll er nicht genauso verrückt und ausufernd sein wie das Sujet, das er so lebendig und aufregend (und etwas zu lang) einfängt?

Thomas Schultze