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REVIEW VENEDIG: „Disclaimer“

Siebenteilige Fernsehserie mit Cate Blanchett als erfolgreiche Doku-Filmerin, deren Leben aus den Fugen gerät, als sie einen Roman entdeckt, in dem sie die Hauptfigur ist und eine Reihe unangenehmer Wahrheiten aus ihrer Vergangenheit ans Licht kommen könnten.

CREDITS:
Land / Jahr: Großbritannien 2024; Laufzeit: 7 x 45 Minuten; Regie & Drehbuch: Alfonso Cuarón; Besetzung:  Cate Blanchett, Kevin Kline, Sacha Baron Cohen, Lesley Manville, Kodi Smit-McPhee, Louis Partridge, Leila George, Hoyeon; Plattform: Apple TV+; Start: 11. Oktober 2024

REVIEW:
Man weiß, dass Alfonso Cuarón, Oscargewinner für „Gravity“ (beste Regie) und „Roma“ (bester fremdsprachiger Film), Sorgfalt walten lässt bei der Auswahl und Umsetzung seiner Stoffe. Man weiß, dass jede neue seiner Arbeiten etwas Außergewöhnliches sein wird, einzigartig in der künstlerischen Gestaltung, ein einbindendes und überwältigendes Erlebnis. All das trifft nun auch auf die erste Fernsehserie zu, die der mexikanische Filmemacher realisiert hat, für Apple, und die er nun nach „Gravity“ und „Roma“ auch wieder erstmals auf der Mostra in Venedig einem Publikum präsentiert. Nach „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“ ist es auch seine erste Literaturverfilmung, wenngleich völlig anders gelagert. Am besten ließe sich „Disclaimer“, das Romandebütsder britischen Dokumentarfilmerin Renée Knight, das in Deutschland unter dem Titel „Deadline“ veröffentlicht wurde, wohl mit „Gone Girl“ vergleichen, dem nicht minder raffinierten und verschachtelten Bucherfolg von Gillian Flynn: Psychothrill mit so vielen Wendungen und Haken, dass man zu Beginn unmöglich auch nur ahnen kann, wohin der Weg der Geschichte gehen wird. 

„Disclaimer“ mit Cate Blanchett (Credit: Apple TV+)

Natürlich hat Alfonso Cuarón nur die Besten um sich versammelt, um diesen rein literarisch nicht unbedingt zu Überliegern gehörenden Roman, die maximale Rundumveredelung angedeihen zu lassen: Wenn nicht schon Robert Elswit in „Ripley“ über sich selbst hinausgewachsen wäre, wäre „Disclaimer“ sicherlich das bestaussehende Stück Fernsehen des Jahres: Jede Komposition der Kameramänner Emmanuel Lubezkiund Bruno Delbonnel ist ein Traum. Das Kostümbild (Jany Temime) und das Szenenbild (Neil Lamont) sehen dem in nichts nach und lassen die Serie in einem Glanz erstrahlen, als wolle man den jüngsten Edelthriller von HBO, „The Undoing“ oder „Big Little Lies“, spielend rechts überholen. Und doch hat die Geschichte auch echten Dreck unter ihren Nägeln, spielt hier nicht alles in der Welt der Reichen und Schönen. Vielmehr geht es um einen Angriff auf diese heile Welt, in der die von der zweifachen Oscargewinnerin Cate Blanchett gespielte Dokumentarfilmemacherin Catherine Ravenscroft so souverän lebt, eine Frau, die es zu etwas gebracht hat, in einem tollen Häuschen wohnt in London mit ihrem Ehemann Robert, dargestellt von Sacha Baron Cohen, und ein makelloses Vorbild ist mit ihrer Haltung, stets der Wahrheit das Wort zu reden. Wenn es einen Makel gibt, dann ist es ihr mittlerweile erwachsener Sohn Nicholas, gespielt von Kodi Smit-McPhee, der so gar nicht geraten ist, wie es sich die Ravenscrofts gewünscht und erwartet hätte: er ist kein herausragender junger Mann, kann sich gerade mal mit Mühe selbst über Wasser halten, als Staubsaugerverkäufer in einem Kaufhaus, frisch ausgezogen aus dem elterlichen Heim. 

Nun droht die vermeintlich so perfekte Welt der Ravenscrofts aus den Fugen zu geraten. Catherine wird ein Roman zugespielt. Der Name der Autorin sagt ihr nichts, und doch scheint diese Frau ihre tiefsten Geheimnisse nicht nur zu kennen: Sie exerziert sie in der Geschichte durch, in dem es um eine junge Mutter geht, die sich in einem Italienurlaub auf eine heiße Affäre mit einem 19-Jährigen einlässt und aus zunächst nicht klaren Gründen an dessen Unfalltod im Meer zu sein scheint. Das ist der Ausgangspunkt der Handlung, die Alfonso Cuarón parallel auf drei Ebenen vorantreibt: die Gegenwart von Catherine und ihrer Familie, die Vergangenheit, in der es zur Affäre kommt, und ein weiterer Handlungsstrang in der Gegenwart, in der ein älterer Schulprofessor, gespielt von Kevin Kline, die Hauptrolle spielt. Wie das alles zusammengehört, soll nicht weiter verraten werden. Und obwohl sich doch alsbald ein deutliches Narrativ ergibt, die Puzzlestücke sich zusammenfügen, bleibt bis kurz vor Schluss immer ein Ungewissheit.

Kevin Kline, Cate Blanchett und Alfonso Cuarón für „Disclaimer“ auf der 81. Mostra (Credit: Giorgio Zucchiatti / La Biennale di Venezia)

„Disclaimer“ ist ein Meisterwerk der Desorientierung, der uneindeutigen Erzählung. Jeder der drei Stränge hat einen ganz eigenen Stil und einen eigenen Erzähler, wobei nicht genau gesagt werden könnte, wie zuverlässig die Bilder sind und wie vertrauenswürdig der Erzähler ist. Ist es wirklich wahr, was man gerade sieht? Und hängt es wirklich so mit den anderen Strängen zusammen, wie man es sich zusammenreimt oder wie es einen die Geschichte Glauben zu machen scheint. Während Catherine Ravenscroft also ihre Höllenfahrt antritt, ihr Leben aus den Fugen gerät, ihre jede Gewissheit genommen wird, passiert dasselbe im Grunde in der Serie selbst, die über ein ausgeklügeltes Soundkonzept verfügt, wie man es im Fernsehen noch nicht gehört hat. Mit jedem Schritt, mit dem die Handlung vorangetrieben wird, verwischt sie auch gleich wieder ihre Spuren. 

Immer schwingen Metaebenen mit, erzählt „Disclaimer“ auch etwas über die Kunst des Erzählens. In Folge vier geht das so weit, dass ihr sogar ein „Disclaimer“ vorangestellt wird: Jetzt wird es Szenen besonders erwachsener Natur geben. Weshalb man gleich noch genauer hinschaut und noch skeptischer wird, ob man nicht auf den Holzpfad gelockt wird, zumal die Figur von Cate Blanchett hier als jüngere Frau von der atemberaubenden Leila George gespielt wird. Wie passt das alles zusammen, verdammt noch einmal! Es ist ein fortwährendes Vexierspiel, in dem sich die Einzelteile verschieben und wieder neu zusammensetzen. Wäre „Disclaimer“ ein Film und im Wettbewerb in Venedig, wäre die Serie ein Anwärter auf den Goldenen Löwen. Aber auch ohne Festivalpreis weiß man: Es ist etwas besonders Tolles, was man sieht. Und mittendrin Cate Blanchett mit einer Figur, die Lydia Tár anklingen lässt, aber immer auf eigenen Beinen steht, auch wenn sie ihr gerade weggezogen werden. 

Thomas Schultze