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REVIEW STREAMING: „John Sugar“

Achtteilige Miniserie mit Colin Farrell als Privatdetektiv in Los Angeles, der von einem legendären Hollywoodproduzenten beauftragt wird, dessen spurlos verschwundene Enkelin zu finden – und in ein Wespennest sticht.

CREDITS:
O-Titel: Sugar; Land/Jahr: USA 2024; Showrunner: Mark Protosevich; Lead-Regisseur: Fernando Mereilles; Besetzung: Colin Farrell, Amy Ryan, Kirby, James Cromwell, Anna Gunn, Dennis Boutsikaris, Nate Corddry, Sydney Chandler; Plattform: Apple TV+; Start: 5. April 2024

REVIEW:
Die Filmgeschichte ist gepflastert mit Privatdetektiven, die in den Niederungen der Stadt der Engel ihrem Tagwerk nachgehen, desillusioniert und gezeichnet von den Abgründen, die sie zu sehen bekommen, und doch verdammt durch ihren moralischen Kodex, immer weitermachen zu müssen, moderne Ausgaben des mythischen Sisyphus. John Sugar ist einer wie Sam Spade oder Philipp Marlowe, wie Jake Gittes oder Nick Charles. Mehr noch: Er definiert sich über seine Vorbilder, sieht sich die alten Filme der schwarzen Serie abends im Fernseher an, trägt einen schwarzen Anzug mit schwarzer Krawatte, fährt ein klassisches Muscle-Car, und wenn er in Situationen gerät, die ihn an die Filme denken lässt, dann sieht man kurze Schnipsel aus den Klassikern mit Humphrey Bogart, Fred MacMurray oder Jack Nicholson, „Die Spur des Falken“, „Tote schlafen fest“, „Rächer der Unterwelt“ oder „Chinatown“, wie kurze Geistesblitze und Eingebungen. Was John Sugar indes unterscheidet von seinen Idolen, ist seine Weltsicht: Er glaubt an das Gute im Menschen, unerschütterlich. Wenn er seiner Arbeit nachgeht, die er mit erstaunlicher Zielstrebigkeit erledigt, dann gibt er auch denen noch eine Chance, die ihm gerade nach dem Leben getrachtet haben, oder er versucht, gescheiterte Existenzen wieder auf den rechten Pfad zu helfen, oftmals mit für ihn unerwartet tragischen Konsequenzen.

Und wieder eine Paraderolle für Colin Farrell: Er ist „John Sugar“ (Foto: Apple)

John Sugar ist eine Traumrolle für Colin Farrell, der fast ein Vierteljahrhundert nach „Tigerland“ besser aussieht denn je und ohnehin einen Lauf hat, zuletzt in „The Batman“, „After Yang“ und natürlich „The Banshees of Inisherin“, der ihm im vergangenen Jahr seine erste Oscarnominierung eingebracht hat. Er hat die nötige Virilität, einen glaubwürdigen Private Eye in der Tradition der Großen von Hollywood abzugeben, ist aber auch zart und einfühlsam genug, ihn eine überzeugende moderne Version abgeben zu lassen in einem Los Angeles, in dem sich in den letzten 80 Jahren alles verändert hat, nur das Verbrechen nicht. Was Erfolgsdrehbuchautor Mark Protosevich („I Am Legend“) in seiner ersten Serienarbeit in acht Folgen zu Papier gebracht hat, ist ein Krimi, der sich punktgenau deckt mit den Geschichten, wie sie Raymond Chandler und Dashiell Hammett und später James Ellroy in ihren besten Arbeiten erzählen: Ein gestandener Hollywoodmogul beauftragt John Sugar, seine spurlos verschwundene Enkelin zu finden, eine auf harte Drogen abgestürzte junge Frau, die sich offenbar mit den falschen Leuten eingelassen hat. 

Nach einer Reihe von Jahren, die er fast ausschließlich wieder in seiner Heimat Brasilien gearbeitet hat, kehrt Fernando Mereilles, immer noch am besten bekannt für seinen „City of God“ aus dem Jahr 2002 (und seine John-le-Carré-Verfilmung „Der ewige Gärtner“ drei Jahre später), als Regisseur nach Hollywood zurück. Seine dynamische Inszenierung eignet sich wunderbar für das verschlungene Narrativ mit seinen vielen Nebenschauplätzen und Umwegen. Zuerst ist seine ungewöhnliche visuelle Gestaltung mit ihren vielen schrägen Kamerawinkeln und Weitwinkelobjektiven und abrupten Schnitten gewöhnungsbedürftig. Aber man ist schnell auf einer Linie mit dem eigenwilligen Rhythmus von „John Sugar“, der so schnell erzählt ist, dass man kaum Zeit hat, kurz einmal innezuhalten und darüber nachzudenken, was es mit den abendlichen Treffen Sugars mit einer nicht näher definierten Gruppe von Leuten zu tun hat, die sich regelmäßig im Haus seiner rechten Hand Ruby (noch besser als gerade erst in „Culprits“: Kirby) versammelt. Man hat schon genug damit zu tun, mit den Ermittlungen der Titelfigur Schritt zu halten, die ihn in Kontakt bringt mit tollen Schauspielern wie Amy Ryan, James Cromwell, Anna Gunn oder Nate Corddry.

Bis zur sechsten Folge ist „John Sugar“ großartig, ein punktgenauer, fiebriger Neo-Noir, der einen abholt und packt, qualitativ auf einer Ebene mit den Klassikern, die die Serie emuliert und zitiert. Dann… muss man selber erlebt haben, was die Macher aus dem Hut zaubern. Es ist jedenfalls so wunderbar, dass man sich die Augen reibt, weil man es nicht glauben will. Aber darüber reden wir dann, wenn es so weit ist. Halten wir fest: In einem tollen Serienjahr 2024, das in den ersten drei Monaten des Jahres bereits Alltimer wie „True Detective: Night Country“, „Shogûn“ und „The Gentlemen“ bereithielt, ist „John Sugar“ der nächste Gewinner. Apple TV+ kann sich glücklich schätzen, sich mit diesem Juwel schmücken zu können.

Thomas Schultze