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REVIEW SAN SEBASTIÁN: „The Serpent’s Path”

Beinharter Thriller über einen Mann, der mit Hilfe einer Partnerin die Mörder seiner achtjährigen Tochter ausfindig machen will.

„Serpent’s Path“ von Kiyoshi Kurosawa (Credit: SSIFF)

CREDITS: 
Land / Jahr: Frankreich 2024; Laufzeit: 112 Minuten; Regie & Drehbuch: Kiyoshi Kurosawa; Besetzung: Damien Bonnard, Kō Shibasaki, Mathieu Amalric, Munetaka Aoki, Grégoire Colin

REVIEW:
Regisseure, die Remakes ihrer eigenen Filme machen. Viele fallen einem da auf Anhieb nicht ein. Hitchcock und „Die 39 Stufen“, Haneke und „Funny Games“. Jetzt auch Kiyoshi Kurosawa und „The Serpent’s Path“, ein 1998 wichtiger Film in der Entwicklung des 69-jährigen Japaners, in einer Phase, in der man ihn in Deutschland Seite an Seite mit Hideo Nakata und Takashi Miike an der Speerspitze eines neuen eindringlichen Horrorfilms entdeckte, vornehmlich mit „Cure“ und „Pulse“. Dabei war „Hebi No Michi“, so der Originaltitel, die wichtigere Arbeit, ein nihilistischer Blick in einen Abgrund, aus dem einem die unstillbare Kapazität des Menschen zu Grausamkeit und Gewalt entgegenstarrte, begleitet von einem weiteren Film aus dem gleichen Jahr, „Kumo No Hitomi / Eyes of the Spider“, in dem Shō Aikawa abermals als Naomi Niijima zu sehen war, der sich mit der Nachernte seiner unaussprechlichen Taten im Vorgänger konfrontiert sah. 

Das Remake ist der erste Film, den Kiyoshi Kurosawa außerhalb Japans und in einer ihm fremden Sprache gedreht hat. Naomi Niijima heißt hier Albert und wird von Damien Bonnard gespielt, unvergesslich als junger Cop in „Die Wütenden – Les misérables“ und als manisch-depressiver Maler in „Die Ruhelosen“, jüngst in einer kleinen Rolle in „Poor Things“ zu sehen. Ohne Präambel und Einführung ist man direkt drin in der Handlung. Gemeinsam mit einer mysteriösen japanischen Frau, gespielt von Kō Shibasaki aus „Battle Royal“ und „47 Ronin“, sehen wir ihn auf einer Nebenstraße in Paris, atemlos und aufgeregt. Gemeinsam lauern sie einem Mann auf, gespielt von Mathieu Amalric, setzen ihn mit einem Taser außer Gefecht, verpacken ihn in einen Schlafsack und dann in den Kofferraum ihres Autos und bringen ihn in eine entlegene Fabrikhalle. Dort wird er in Ketten gelegt, wie ein Tier gehalten. Jeden Tag konfrontiert Albert den Mann mit einem Video seiner achtjährigen Tochter, entstanden kurz vor dessen spurlosem Verschwinden und seiner grausamen Ermordung. 

Die Täter sollen zahlen. Albert ist blind vor Schmerz und Trauer und Wut. Er ist eine stumpfe Waffe, zu allem bereit, attackiert sein hilfloses Opfer wiederholt. Die Rolle seiner Partnerin ist weniger klar, die sich als seine Ärztin entpuppt. Sie ist aber nicht weniger entschlossen, mit maximaler Härte gegen den Gefangenen vorzugehen und Informationen von ihm zu erhalten. Er verweist sie zu einem weiteren Mann, ein Kollege Alberts, der wohl ebenso zu dem Zirkel gehört, der mit internationalem Organhandel sein schmutziges Geld verdient. In einer wilden Szene in einer Hütte im Wald wird auch dieser zweite Mann entführt: Wie sie ihn abermals in einem Schlafsack im Laufschritt durch den Wald und über Felder schleifen, ist ein Bild, das einem nachhängt, so bizarr und krass, sinnbildlich für den ganzen Film, der immer noch abgründiger und düsterer wird, Befreiung durch Folter. Selbst die Stadt der Liebe wird in den Händen von Kiyoshi Kurosawa zu einem Schlund, der alles mit sich reißt, was wir als menschlich erachten, und nur noch das Tier übrigbleibt. 

Albert ist eine große tragische Figur. Er erinnert an den Titelhelden in Park Chan-wooks „Oldboy“, an Guy Pearces Leonard in Christopher Nolans „Memento“: ein Mann, der so überwältigt wird von seinen primalsten Trieben, seinem Durst nach Rache, dass er nicht erkennen kann, selbst nur ein Instrument zu sein, ein willfähriges Opfer. „The Serpent’s Path“ ist eine harte Seherfahrung, ein reinigendes Erlebnis, auch wenn es für die Figuren keine Katharsis gibt, nicht geben kann nach allem, was da passiert vor den fassungslosen Augen des Zuschauers, eingebettet in einer eigenwilligen Mise en Scène und unkonventionellen Kameraschwenks, mit zunächst schwer einzuordnenden Rückblenden. Es ist unmöglich, den Film nicht zu lesen als Warnung, als Abrechnung in einer Welt, in der Triebe die Ratio ausblenden wie ein weißes Rauschen, das alles andere ertränkt. Für Kiyoshi Kurosawa ist diese Arbeit der Höhepunkt eines betriebsamen Jahres: in Berlin war er mit dem 45-Minüter „Chime“ und in Venedig außer Konkurrenz mit „Clouds“ vertreten. Aber „The Serpent’s Path“ ist es, der sich einbrennt. 

Thomas Schultze