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REVIEW SAN SEBASTIÁN: „Emmanuelle“

Neuverfilmung des Skandalromans von Emmanuelle Arsan, in dem eine junge Frau in Asien lernt, ihre Sexualität auszuleben und sich zu nehmen, was sie braucht.

CREDITS:
Land / Jahr: Frankreich 2024; Laufzeit: 117 Minuten; Regie: Audrey Diwan; Drehbuch: Audrey Diwan, Rebecca Zlotowski; Besetzung: Noémie Merlant, Naomi Watts, Will Sharpe, Jamie Campbell-Bower; Verleih: Wild Bunch

REVIEW: 
Was nicht alles geschrieben wurde über „Emmanuelle“, den ersten Film von Audrey Diwan nach ihrem Gewinn des Goldenen Löwen mit ihrem erschütternden Abtreibungsdrama „Das Ereignis“, die Neuverfilmung des Skandalromans von Emmanuelle Arsan aus dem Jahr 1967, nachdem sowohl Cannes und schließlich auch noch Venedig den Film nicht in ihre offizielle Auswahl aufgenommen hatten. Ein Affront eigentlich, es sei denn, der Film sei wirklich so unzeigbar, wie das aus den jeweiligen Auswahlkomitees durchgesickert war. Nun also konnte man sich endlich ein eigenes Urteil bilden: „Emmanuelle“ feierte Weltpremiere als Eröffnungsfilm des 72. San Sebastián International Film Festival, läuft dort auch im offiziellen Wettbewerb. Am 25. September folgt die offizielle Kinoauswertung in Frankreich, zwei Tage später auch in Spanien. 

Audrey Diwans „Emmanuelle“ mit Noémie Merlant (Credit: SSIFF)

Natürlich ist der Film, von dem Audrey Diwan angekündigt hatte, er wolle Intimität, Sexualität und Lust aus einer betont weiblichen Sex neu definieren (sie schrieb das Drehbuch gemeinsam mit der befreundeten feministischen Filmemacherin Rebecca Zlotowski), vorbelastet. Da ist natürlich der „Emmanuelle“ aus dem Jahr 1974, von Just Jaeckin, der in Deutschland damals Tagesgespräch war und auf vier Millionen Ticketverkäufe kam, seine Hauptdarstellerin Sylvia Kristel zum Superstar machte und diverse, zunehmend pornographische Fortsetzungen und Spinoffs, u. a. mit Laura Gemser als neue Emmanuelle, nach sich zog. Wenn man den Film heute ansieht, ist vieles kaum zu ertragen. Vieles ist schlampig inszeniert und billig produziert, und wie sich die Titelfigur beim Ausloten ihrer Sexualität dann doch immer wieder in die Hände der Männer begeben muss, buchstäblich bisweilen, das ist miefig und muffig und überhaupt: cringe. Aber man darf dabei nicht vergessen, dass der Film damals ein Quantensprung war: Endlich überhaupt eine Heldin, der Sinnlichkeit zugestanden wird, die ihre Sexualität selbst erforscht, Erfahrungen mit Männern macht ebenso wie mit Frauen in einer „Schule der Lust“.

Anyway, so kann man das heute nicht mehr machen. Und so hat Audrey Diwan es auch nicht gemacht. Ihr Film ist gedacht als Akt der Befreiung, als filmischer Feldzug, ist in den besten Momenten förmlich eine Zurückeroberung und weibliche Neudefinition von Filmbildern und Tropen, die man wohl als durch und durch männlich ansehen könnten, ob nun „toxisch“ oder nicht, muss jeder für sich selbst entscheiden. Zunächst einmal befreit Diwan ihre Emmanuelle aus den Fesseln der Vorlage, indem sie ihren Film lediglich auf der Figur des Romans basiert, eine neue Handlung in einer neuen Zeit für ihre kühle, geheimnisvolle Heldin findet. Hier ist sie keine Ehefrau eines Diplomaten mehr, kein Spielball verschiedener Männer in unterschiedlichsten sozialen und dann auch intimen Situationen in Thailand. Hier ist sie unterwegs als Kontrolleurin im Auftrag des Upper-Managements einer Kette von Edelhotels in Südostasien, ihre Mission ist es, die Performance eines Fünf-Sterne-Palasts in Hongkong zu überprüfen und Gründe finden, die ungeliebte Managerin des Hauses zu feuern. 

Audrey Diwan auf dem Roten Teppich von San Sebastián (Credit: Pablo Gómez / SSIFF)

Immer souverän, immer überlegen, immer unabhängig, immer sensationell angezogen und fabelhaft geschminkt. Aber eben, wie der Film in seinen eleganten und kalten Bildern aus der Highest Society, von Reichtum und Stil, von Technologie und Prunk unterstreicht, nicht frei, gefangen in ihrer Starre und Einsamkeit, ein Leben so fake wie das Prunkhotel, das auch das Overlook Hotel sein könnte, wenn es nicht so schön und edel wäre. Weil sie zwar Erfolgsfrau durch und durch ist, aber dieser Erfolg sich definiert durch die Erwartungen einer von Männern dominierten und definierten Geschäftswelt. An „Demonlover“ von Assayas musste ich denken, an seinen „Boarding Gate“ und besonders „Personal Shopper“ (minus dessen Geistergeschichte), eine souverän entworfene kosmopolitische Welt vieler Sprachen – hier Englisch, Französisch, Kantonesisch im nahtlosen Übergang – und äußerer Schlüsselreize, auf die Diwan und Zlotowski und ihre geniale Hauptdarstellerin Noémie Merlant ihren ganz eigenen weiblichen Blick werfen, der die typisch männerbelasteten Bilder entlarvt und entsorgt und ersetzt mit ihrer Vorstellung von Erotik und Sinnlichkeit. 

Gleich zu Beginn erleben wir Emmanuelle als eine Frau, die sich nimmt, was sie will, aber nicht bekommt, was sie braucht. Ein Blickkontakt mit einem attraktiven Mann in der ersten Klasse ihres Flugs nach Hongkong, schneller Sex auf der Toilette des Flugzeugs, zuerst aufregend für sie, danach repetitiv und bedeutungslos: Später wird sie den Rhythmus seines Zustoßens sarkastisch nachmachen, indem sie ihre perfekt manikürten Fingernägel auf eine Tischoberfläche tippen lässt. Für sie zählt, dass sie die treibende Kraft dabei ist, die Kontrolle hat. Die Erfüllung bringt der Sex dann nicht. Die Welt, durch die sie sich bewegt, ist männlich. Was sie tut, um sich souverän und selbstbewusst zu fühlen, begehrenswert und schön, tut sie innerhalb dieser Parameter. Schon cool, wie sie sich in der Badewanne die Beine rasiert und danach ihre Scham. Sie glaubt sich zu gehören. Wirkt dominant, ist aber letztlich nicht bei sich angekommen: Das Hotel . In einer Reise durch die Nacht (die mehrere Tage umfasst) wird Emmanuelle ihren Bedürfnissen folgen lernen, während sie parallel gestreng ihrem Job nachgeht. Sie wird sich von einer schönen Asiatin am Swimmingpool ihres Hotels verführen lassen und einen geheimnisvollen japanischen Mann begehren, der so gar nicht ist wie die anderen Männer und sich als frigide, vielleicht sogar impotent entpuppt – gespielt von Will Sharpe aus „The White Lotus“ und Regisseur der außergewöhnlichen Serie „Landscapers“ und des Films „Die wundersame Welt des Louis Wain“. 

In Spanien steht bereits der Kinostart von „Emmanuelle“ an (Credit: SPOT)

Und sie wird sich auf die Suche nach ihm begeben, raus aus dem Hotel und den Insignien des Reichtums, zu denen sie selbst gehört, raus aus ihrer Komfortzone, in einer atemberaubend gefilmten Sequenz, in der sich der Wong Kar-Wai von „Chungking Express“ und der Wong Kar-Wai von „In the Mood for Love“ in der Mitte treffen, um so etwas wie den feministischen Gegenentwurf zu „Eyes Wide Shut“ zu präsentieren, das Fahnden nach einem geheimen Zirkel namens Fenwick, der so mythisch und verboten klingt, dass es ihn vielleicht gar nicht gibt, sich aber als Schlüssel entpuppt zur endgültigen Befreiung von Emmanuelle, zu ihrer Emanzipation, frei vom patriarchal gaze, umschmeichelt vom female gaze: Wieder entscheidet sie, nimmt sie sich, was sie will. Diesmal ist es auch das, was sie braucht. Wie schon das Original endet dieser „Emmanuelle“ abrupt, in dem Moment, in dem sie den Moment ihrer Befreiung erlebt, der sich auch in erstmaliger sexueller Erfüllung äußert. In einer sehr schönen Szene davor hatte Naomi Watts als die bei ihren Vorgesetzten auf dem Prüfstand stehende Hotelchefin Emmanuelle erklärt, dass sie als erste Amtshandlung die Hintergrundmusik im Hotel hatte ändern lassen, deren eigentümlicher Rhythmus die Menschen subliminal steuern soll, ein bisschen wie Hypnose. So funktioniert auch der Film, der dem Publikum zeigt, was es von einem Erotikfilm erwartet, aber mit dessen Mitteln ganz andere Absichten durchsetzt. Ob das filmisch immer hundertprozentig erfolgreich ist, wird sich mit ein bisschen Abstand von der ersten Seherfahrung klären. Die Ambition allein ist so gewaltig, dass man gebannt ist. Und die Augen nicht von Noémie Merlant lassen kann. Auch wenn es die Augen eines Mannes sind, der hier ein bisschen lernt, neu zu sehen, vielleicht mit dem human gaze, der uns allen guttäte.

Thomas Schultze