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REVIEW KINO: „White Bird“

Zweiter Film aus der „Wunder“-Welt der Schriftstellerin RJ Palacio, in dem die Geschichte eines jüdischen Mädchens erzählt wird, das im Frankreich des Jahres 1942 von einem Jungen in einer Scheune versteckt wird.

CREDITS:
O-Titel: White Bird; Land/Jahr: USA 2023; Laufzeit: 120 Minuten; Regie: Marc Forster; Drehbuch: Mark Bomback, R.J. Palacio; Besetzung: Olivia Ross, Orlando Schwerdt, Helen Mirren, Gillian Anderson, Bryce Gheisar; Verleih: Leonine; Start: 11. April 2024

REVIEW:
Was für ein merkwürdiger Trip die Karriere des in Deutschland geborenen Schweizer Regisseurs Marc Forster doch ist. Zumindest in der Außenwirkung wirkt das so: Jeder neue Film seit seinem Durchbruch mit „Monster’s Ball“, der Halle Berry 2002 den Oscar als beste Schauspielerin bescherte, ist eine kleine Neuerfindung: Da gibt es keine Themen, keine inhaltlichen Obsessionen, die sich wie ein roter Faden durch Forsters Schaffen ziehen würden. Er ist ein Handwerker, allerdings einer mit einer ausgeprägten Bildsprache und visuellem Gestaltungswillen, ungemein elegant und souverän im Umgang mit den Mitteln, was letztlich auch seine zwei erfolgreichsten Filme auszeichnet, „James Bond 007 – Ein Quantum Trost“ von 2008 und „World War Z“ von 2013. Ein bisschen hat sich das geändert, seitdem Marc Forster nach einer vierjährigen Schaffenspause, sicher auch bedingt durch sein Engagement hinter den Kulissen als Vermittler beim Kauf der Telepool durch Will Smith, 2022 mit „Ein Mann namens Otto“ mit Tom Hanks in einer schönen Paraderolle wieder auf den Regiestuhl zurückgekehrt ist. 

Orlando Schwerdt und Olivia Ross in „White Bird“ von Marc Forster (Foto: Leonine)
Orlando Schwerdt und Olivia Ross in „White Bird“ von Marc Forster (Foto: Leonine)

So anders sein Remake des schwedischen Erfolgsfilms auch sein mag im Vergleich zu „White Bird“, der sogar vor „Otto“ gedreht wurde und eigentlich schon im Herbst 2022 in die Kinos kommen sollte, so sehr eint beide Filme doch eine unbedingte Menschlichkeit. Sie sind Plädoyers für einen offeneren Umgang miteinander. Was sich generell auch sagen lässt über die literarische Welt, die R.J. Palacio zunächst mit ihrem Debüt „Wunder“ aus dem Jahr 2012 geschaffen hat, das sich zum literarischen Phänomen entwickelte und schließlich 2017 zur erfolgreichen Verfilmung von Stephen Chbosky mit Julia Roberts und Clive Owen führte (1,35 Mio. Ticketverkäufe in Deutschland; 132,4 Mio. Dollar Umsatz in den USA; 311 Mio. Dollar Kasse weltweit). „White Bird“ ist nun in derselben Welt angesiedelt und beginnt mit dem Jungen Julian, der in „Wunder“ zu denen gehörte, die dem kleinen Auggie, der aufgrund seines verunstalteten Gesichts am liebsten stets einen Astronautenhelm trägt, das Leben zur Hölle machten und deshalb schließlich von der Schule flog. In seiner neuen Schule in New York City findet er nun nur schwer Anschluss, ist hin- und hergerissen, ob er mit den coolen Jungs abhängen oder sich mit den interessanteren „Verlierern“ abgeben soll. Weshalb ihm seine von Helen Mirren gespielte Großmutter den Kopf wäscht und ihm als Erstem überhaupt erzählt, was ihr in ihrer Kindheit widerfahren war. 

In einer sehr langen Rückblende wird nun die eigentliche Geschichte erzählt, nach einem Drehbuch, das R.J. Palacio selbst gemeinsam mit Mark Bomback geschrieben hat. Zuerst erinnert sich Rose an den einen Moment der Harmonie, der ihr geblieben ist, ein Moment des Friedens und der Liebe mit ihren Eltern mitten im Wald, bevor ihre Welt zerbricht. Denn Rose ist ein jüdisches Mädchen, was im Jahr 1942 selbst in der französischen Provinz nicht ohne Folgen bleibt. Von einem Tag auf den anderen kehren ihr die Menschen den Rücken zu, wenig später gelingt es ihr in der Schule als einzige, dem Abtransport jüdischer Schüler durch die Nazis und ihren Kollaborateuren zu entkommen. Rose hat Glück im Unglück. Der gleichaltrige Julian, ein von seinen Mitschülern gehänselter Junge, weil er wegen seiner Kinderlähmung ein Hinkebein hat und angeblich unangenehm riecht, ist heimlich lange schon verliebt in Rose: Wenn er im Kino als Vorführer aushilft, während sich die Erwachsenen im Keller mit anderen Mitgliedern der Resistance treffen, beobachtet er durch ein kleines Fenster, wenn Rose im Kino sitzt und sich bei „Moderne Zeiten“ amüsiert. Nun erklärt er sich bereit, sie außerhalb des Dorfs in der Scheune neben dem Haus seiner Eltern zu verstecken. 

Zwei Jahre wird Rose dort zubringen. Zwei Jahre, die erfüllt sind von Schrecken und Angst, sie könne entdeckt und deportiert werden wie ihre Eltern. Aber auch zwei Jahre, in der die Scheune für sie und Julian zu einer Trutzburg wird und sie zueinander finden können. Natürlich spitzt sich die Handlung alsbald zu, drängt die bittere Realität in die fragile Idylle, geht es alsbald um Leben und Tod. Und eine Erkenntnis, die sich schließlich mit der Botschaft von „Wunder“ deckt: Ein kleiner Akt der Selbstlosigkeit kann das Leben anderer Menschen verändern. Oder um mit dem Talmudzitat aus „Schindlers Liste“ zu sprechen: Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt. Darum hat Marc Forster einen schönen Film gestrickt, in dem die Bilder der Natur immer auch Ausdruck des Innenlebens der Figuren sind, in den Hauptrollen gespielt von den Nachwuchsstars Olivia Ross und Orlando Schwerdt. Dass er bisweilen auch naiv anmutet und gerade im Showdown nicht immer nur Dinge geschehen, die man dem Film guten Gewissens abnehmen kann, mindert nicht die Freude daran, sich ein im besten Sinne konventionelles Stück aufrichtiges, manchmal sentimentales Erzählkino anzusehen, dass dann am schönsten ist, wenn der Regisseur vom Kino als Paradies auf Erden erzählt. 

Thomas Schultze