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REVIEW KINO: „Ein Schweigen“

Erschütterndes Familiendrama, basierend auf dem wahren Fall des belgischen Anwalts Hissel, in dem das Schweigen einer Frau eine Katastrophe heraufbeschwört.

CREDITS:
O-Titel: Un silence; Land/Jahr: Belgien, Luxemburg, Frankreich 2023; Laufzeit: 99 Minuten; Regie: Joachim Lafosse; Drehbuch: Sarah Chiche, Chloé Duponchelle, Valérie Graeven; Besetzung: Daniel Auteuil, Emmanuelle Devos, Matthieu Galoux, Jeanne Cherhal, Louise Chevillotte; Verleih: Arsenal; Start: 6. Juni 2024 (war 25. April)

REVIEW:
Joachim Lafosse ist ein Phänomen. Auch „Un silence“, der seine Weltpremiere im vergangenen September beim Filmfestival in San Sebastián feierte, ist wieder einer dieser eindringlichen, blitzsauber inszenierten, sich erst nach und nach auf verblüffende Weise erschließenden Filme des Belgiers. In seiner Machart könnte man ihn als Gegenentwurf zu dem direkten Vorgänger sehen, „Die Rastlosen“, mit dem er vor zwei Jahren erstmals im Wettbewerb von Cannes reüssiert war, ein sehr eigenwilliger, nervöser Film, auf den man sich einlassen musste, den man danach aber nicht mehr abschütteln konnte. Dessen fast aufdringlicher Handkamera, die den Figuren förmlich auf den Zahn fühlte, setzt er in seiner neuen Arbeit ein fast klassisch gefilmtes Drama entgegen: Er geht auf Abstand zu den Figuren, sieht ihnen zu, mischt sich aber nicht ein. Man könnte auch sagen: Er will sich nicht gemein machen mit ihnen.

Emmanuelle Devos ist großartig in der Hauptrolle von „Un silence“ (Foto: Arsenal)

Nach eigenen Aussagen und unverkennbar, wenn man die Hintergründe denn kennt, ist „Un silence“ inspiriert von dem Skandal um den belgischen Anwalt Hissel, eine tragische, unerklärliche Gestalt. Als Vertreter zweier betroffener Familien spielte er eine entscheidende Rolle bei der Verurteilung des Kindermörders Dutroux, nur um sechs Jahre später selbst wegen seiner pädophilen Neigungen und des Besitzes von Kinderpornographie verhaftet zu werden. Lafosse breitet eine fiktionalisierte und doch ganz nah an den Tatsachen bleibende Familientragödie aus, mit dem französischen Star Daniel Auteuil in der Rolle des hier Schaar genannten Anwalts. Erzählt wird der Film allerdings aus der Sicht seiner Frau Astrid: In der ersten Szene sieht man sie durch den Rückspiegel im Auto sitzen, die Kamera ruht auf ihren Augen. Um ihren Blick geht es. Was sie gesehen hat und worüber sie nicht spricht. Sie weiß, was ihr Mann getan hat. Weil er ihr geschworen hat, seine Triebe niemals auszuleben, sich zu kontrollieren, schützt sie ihn durch ihr Schweigen. 

Nur dass die Stille schließlich zur Katastrophe führen wird. Nach der Hälfte der Handlung rückt Sohn Raphaël in den Mittelpunkt. Auch er ist ein Opfer. Und wird dann zum Täter, als die behütete Welt der feinen Familie Schaar – im Namen findet sich nicht ungefähr das englische Wort „scar“ – in Flammen aufgeht. In der Art und Weise, wie Lafosse hier die Bourgeoisie seziert, findet sich viel Chabrol. Gleichzeitig verweist der Regisseur auf sich selbst, auf seinen autobiographischen Film „Privatunterricht“ aus dem Jahr 2008 und verarbeitet sein eigenes Verhalten, als er zu einem Übergriff geschwiegen und ihn damit legitimiert hatte: Das Schweigen von Emmanuelle Devos in der Rolle von Astrid ist schließlich so laut, dass man sich die Ohren zuhalten muss, weil man die Augen nicht verschließen kann. Weil ihre Sprachlosigkeit Frieden bringen soll, aber eine Abfolge gewaltsamer Taten auslöst, die Lafosse so fein und präzise inszeniert, dass man fassungslos zurückbleibt. Die cinephile Gemeinde sollte aufhorchen. „Un silence“ ist kein Film für ein breites Publikum. Und doch ein Erlebnis, das hiermit unbedingt empfohlen sein soll. 

Thomas Schultze