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REVIEW KINO: „Sterben“

Überwältigendes filmisches Panoptikum, in dem ein Dirigent damit umgehen muss, dass seine Eltern im Sterben liegen, seine Schwester sich dem Exzess hingibt und er selbst mit einem Orchester das Stück „Sterben“ einstudiert. 

CREDITS:
Land/Jahr: Deutschland 2024; Laufzeit: 180 Minuten; Regie & Drehbuch: Matthias Glasner; Besetzung: Lars Eidinger, Corinna Harfouch, Lilith Stangenberg, Ronald Zehrfeld, Robert Gwisdek, Hans-Uwe Bauer; Verleih: Wild Bunch; Start: 25. April 2024

REVIEW:
Nehmt das, geht damit um. Was kann man von einem Film erwarten, der einem als Titel „Sterben“ vor die Füße schleudert? Wie von Matthias Glasner nicht anders zu erwarten ist, ist auch seine erste Kinoarbeit seit „Gnade“ vor zwölf Jahren wieder Filmemachen ohne Netz und doppelten Boden, ein cineastischer Monolith wider alle Regeln, an dem man sich vielleicht reiben und stoßen kann, aber man kommt nicht daran vorbei an diesem dreistündigen Stück Kino, das wie in Flammen steht, vom ersten bis zum letzten Moment, und vielleicht seinem Titel gerecht wird und ungeschminkt vom Sterben erzählt, aber doch immer eine Feier des Lebens ist: Jeden Moment, so sagt der Drehbuchautor, Regisseur und Produzent, muss man auskosten, intensiv erleben. Klagegesang und Hohelied: Drink and be merry, for tomorrow we may die. Sangen einst Amebix. Die haben zwar nichts mit dem Film zu tun. Passt aber trotzdem.

In der zentralen Auseinandersetzung in „Sterben“ schenken sich Corinna Harfouch und Lars Eidinger nichts (Foto: Jakub Bejnarowicz, Port au Prince. Schwarzweiss, Senator)

„Sterben“ ist schonungslos autobiographisch. Vor den Augen des Zuschauers breitet Matthias Glasner eine Landkarte seines Lebens aus, drei Stunden lang, aufgeteilt in fünf Kapitel, jedes davon eine neue Vignette seiner ganz persönlichen Erfahrungen. Ein Film, der alles erzählen will und zwar jetzt und sofort. Ausgangspunkt ist ein Jahr im Leben Glasners, an dem wenige Monate voneinander getrennt seine Eltern verstarben und mittendrin seine erste Tochter geboren wurde- sie ist es, die man in der ersten Szene des Films sieht, in der sie direkt in die Kamera spricht. In seinem Drehbuch erforscht er die Emotionen und Gedanken, die diese einschneidenden Erlebnisse in ihm ausgelöst haben. Wenn man den Film sieht, merkt man förmlich, wie der Regisseur sich vorantastet, manchmal an Selbstbewusstsein gewinnt, dann wieder innehält und kontempliert, dann neue Wege einschlägt, um der Komplexität der Erfahrung gerecht zu werden, sich selbst einen Reim zu machen, sich zur Essenz vorzutasten. 

Im Mittelpunkt steht Lars Eidinger als Alter ego Glasners, Tom Lunies, ein Dirigent in Berlin, der mit einem jungen Orchester gerade das Stück „Sterben“ einübt, das neueste Werk seines besten Freundes, des depressiven Komponisten Bernard. Er wird hin- und hergerissen von einer emotionalen Tour de Force, zwischen Geburt, Liebe, Familie, Leben und Tod: Seine Mutter Lissy unterbreitet ihm, dass sein Vater im Sterben liegt und sie selbst unheilbar erkrankt ist. Toms einstige Geliebte Liv steht kurz vor der Geburt ihres Kindes, das zwar nicht Toms ist, ihn aber Vatergefühle empfinden lässt. Und schließlich erscheint auch noch Toms jüngere Schwester Ellen auf der Bildfläche, die sich in Hamburg in eine Affäre mit ihrem Chef stürzt, dem Zahnarzt Sebastian, und nicht bereit ist, sich an die gesellschaftlichen Regeln zu halten, sondern lieber den Exzess wählt, so kurz und ungesund das High auch sein mag.

In einer Szene wird unverkennbar bewusst zweimal dieselbe Aussage wiederholt. Als einer der jungen Musiker den Dirigenten und den Komponisten von „Sterben“ fragt, was es denn bringen soll, ein so hoffnungsloses Stück zu spielen, antworten beide: „Die Hoffnung besteht darin, dass wir es gemeinsam einstudieren und aufführen.“ Das ist auch das Credo des Films, vielleicht sogar das Credo des Kinos als solchem: Egal wie düster man wird, wie aussichtslos die Situationen auch sein mögen, die man erzählt, die Hoffnung besteht darin, dass man den Film gemeinsam macht. Das ist der Leitstern. Ihm folgt man durch diese offene Versuchsanordnung, die so schonungslos ist, wie man sich das vom Regisseur von „Der freie Wille“ oder „This Is Love“ erwartet, aber auch eine Zärtlichkeit hat, eine große Liebe für ihre Figuren und die Dinge, die ihr Leben ausmachen. Ellen singt in einer Kneipe ein Lied des gescheiterten britischen Barden Bill Fay, Tom sieht sich an Weihnachten Bergmans „Fanny & Alexander“ an. „Sterben“ ist eine ganzheitliche Erfahrung, sie kostet das Dasein aus. Und zieht nicht zurück, wenn es hart wird, schafft es aber, tatsächlich in den bittersten Momenten immer auch rasend komisch zu sein.

Eine grandiose Szene reiht sich an die andere: die Probe des Orchesters, die in einer Einstellung gedrehte Auseinandersetzung, in der sich Mutter und Sohn gegenüber sitzend reinen Wein einschenken, der trunkene Pas de Deux, als Ellen in einem Hinterzimmer Sebastian mit einer Zange einen Zahn zieht, die Aufführung des Stücks, bei der sich Ellen vom Rang hinab übergeben muss, der entscheidende, ganz stille und tragische letzte Moment zwischen Tom und Bernard. Und immer spielen die Schauspieler auf der Höhe ihres Könnens, veräußern sich, verschwenderisch, als würden sie mit voller Lust reinbeißen in diese fulminanten Rollen, die ihnen Matthias Glasner auf den Leib geschrieben haben. Corinna Harfouch als Mutter Lissy, Lilith Stangenberg als Ellen, Ronald Zehrfeld als Sebastian, Robert Gwisdek als Bernard, Hans-Uwe Bauer als „mein Vater“, wie es auf dem Plakat des Films geschrieben steht. Und und und. Die besten Schauspieler Deutschlands, noch nie so gut. Und natürlich Lars Eidinger, den man oft sieht, aber noch nie so erlebt hat wie hier, der über sich hinauswächst, alle Sorgen und Freuden eines Lebens auf sich vereint, der so schonungslos ehrlich ist wie der ganze Film, dem auf der Berlinale der Silberne Bär für das beste Drehbuch zugesprochen wurde. Verdient. Und doch zu wenig. Wenn man ehrlich ist. 

Thomas Schultze