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REVIEW KINO: „Never Let Go – Lass niemals los“

Abgründiger Psychoschocker über eine Mutter, die mit ihren zwei Söhnen allein in einem Wald lebt, wo sie sich von einer unerklärlichen Macht bedroht fühlen.

CREDITS:
O-Titel: Never Let Go; Land / Jahr: USA 2024; Laufzeit: 101 Minuten; Regie: Alexandre Aja; Drehbuch: Kevin Coughlin, Ryan Grassby, Besetzung: Halle Berry, Anthony B. Jenkins, Percy Daggs IV, Matthew Kevin Anderson; Verleih: Leonine Studios; Start: 26. September 2024

REVIEW:
Alexandre Aja
 ist kein Regisseur der leisen Zwischentöne, der feingeklöppelten Erzählung, wenngleich er längst auch weit entfernt ist von seinen Anfängen, als er vor 20 Jahren mit „Haute tension“ den besonders krassen modernen French Splatter mit aus der Taufe heben half. Handfest ist seine Herangehensweise bis heute geblieben, wenngleich deutlich raffinierter und gekonnter als damals, als er noch mit dem Vorschlaghammer inszenierte und immer nur Wirkungstreffer zählten. Nach seinen neuern Filmen braucht man kein Riechsalz oder Wiederbelebungsversuche mehr. Dafür hat Aja eine gewisse Raffinesse entwickelt, einen geschickten Umgang, der so weit gediehen ist, dass Quentin Tarantino höchstselbst den Alligator-Schocker „Crawl“ des Regisseurs zum besten Film des besagten Kinojahres erklärte. Das merkt man sich. 

„Never Let Go – Lass niemals los“ von Alexandre Aja mit Halle Berry (Credit: Leonine Studios)

Ob „Never Let Go – Lass niemals los“ auch ähnliche Weihen erfahren wird, lassen wir einmal im Raum stehen. Es ist gewiss kein perfekter Film, und ein besonderer Schockmoment in der Mitte des Films ist lange nicht so effektiv und den Boden unter den Füßen wegziehend, wie er sein sollte, weil er einfach, um es mal so lapidar zu sagen, etwas lame inszeniert wurde. Aber die Gesamtkonzeption ist reizvoll, die Mutter und ihre zwei Söhne in einer einsamen Hütte im Wald, die auch ein Lebkuchenhäuschen sein könnte, die ihre heimischen vier Wände nur verlassen können, wenn sie an langen Seiten festgebunden sind – sonst könnten sie von bösen Dämonen geholt werden. Das Motiv mit der ewigen Nabelschnur ist stark: die Mutter, die ihre Kinder nicht loslassen kann. Schnell sät der Film Zweifel, ob die Geschichte mit dem personifizierten Bösen denn tatsächlich Substanz hat. Oder ob die Frau in der Einsamkeit einfach nur wahnsinnig geworden ist. Beschützt sie die Zwillinge oder schadet sie ihnen? Wie lange werden die Jungen ihr glauben, wann werden die Zweifel überhandnehmen?

Zunächst einmal ist „Never Let Go“, der ursprünglich von Mark Romanek hatte inszeniert werden wollen, dem König der unvollendeten Filme, ein Showcase für Halle Berry, die nach dem viel zu wenig beachteten „Bruised“ – ihr Regiedebüt! – erneut Anmut mit purer Körperlichkeit kombiniert und natürlich niemals wie eine 58-Jährige aussieht, auch wenn sie gerade in dieser Rolle keine Eitelkeit erkennen lässt, ungeschminkt auftritt, mit wirrem Haar und abgetragenen Klamotten (in denen sie natürlich auch fabelhaft aussieht). Dass sie niemals wirklich erkennen lässt, ob ihre Entscheidungen und die Härte gegenüber ihren Söhnen das Resultat aufrichtiger Sorge und Angst sind oder sie von Wahnsinn gelenkt wird, gibt dem Film über seine kompetent gewirkte Märchenwaldatmosphäre und triste Farbpalette seine ganz eigene Identität: Wie sie ihre Kids mit dem Mantra „Never Let Go“ immer wieder auf sich einschwört und auf Spur bringt, trägt sehr zum Gelingen der abenteuerlichen Prämisse bei. Überzeugend sind auch Anthony B. Jenkins und Percy Daggs IV als Berrys Söhne. Auch wenn sie nicht unbedingt wie Zwillinge aussehen mögen, zweifelt man weder an ihren engen Banden, noch daran, dass sie grundsätzlich verschieden sind und es schließlich zu einer Konfrontation gegensätzlicher Weltanschauungen kommen wird. Und die wird kein Spaß sein. Es ist ein Film von Alexandre Aja. Sie verstehen?

„Never Let Go – Lass niemals los“ von Alexandre Aja mit Halle Berry (Credit: Leonine Studios)

Weil sie in der zeitlichen Kinoauswertung so auffallend nahe beisammen liegen, soll ein Vergleich mit „The Watchers“ gestattet sein, das im Juni gestartete Kinoregiedebüt von Ishana Shyamalan, in dem es eine Gruppe Fremder in einer einsamen Waldhütte mit einer unklaren Bedrohung von draußen zu tun bekommt. Beide Filme haben keine perfekten dritten Akte, aber „Never Let Go“ ist die intensivere und allemal emotionalere Filmerfahrung, der man auch die Erfahrung und Selbstsicherheit des Regisseurs immer anmerkt. Natürlich fragt man sich, was Mark Romanek aus dem Stoff gemacht hätte, ein visuellerer und geschickterer Filmemacher. Aber es fällt nicht schwer, auch den direkten Ansatz von Alexandre Aja zu schätzen. Er macht immer noch Kino auf die Zwölf, verpackt den Vorschlaghammer indes mittlerweile in Schaumstoff. 

Thomas Schultze