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REVIEW KINO: „Longlegs“

Atmosphärisch dichter, zutiefst beklemmender Psychohorror über eine junge Polizistin, die einem bizarren Serienmörder auf der Spur ist.

CREDITS:
Land / Jahr: USA 2024; Laufzeit: 101 Minuten; Regie & Drehbuch: Oz Perkins; Besetzung: Maika Monroe, Nicolas Cage, Alicia Witt, Blair Underwood, Kiernan Shipka; Verleih: DCM; Start: 8. August 2024

REVIEW:
Reden wir über „Longlegs“. Wenn ein Abgrund nur lange genug in den Abgrund schaut, schaut irgendwann Nicolas Cage zurück. Würde auch Nietzsche sagen, wenn er die Gelegenheit gehabt hätte, „Longlegs“ zu sehen, den neuen Kultschocker des auf visuell eindringliche Creepshows spezialisierten Oz Perkins. In einer Karriere vieler, sehr vieler exzentrischer Auftritte, zuletzt im Kino als Spießer mit Plauze und Haarkranz in „Dream Scenario“ und gerade erst in Cannes als Mann, dessen Realität sich vor seinen Augen aufzulösen droht, in „The Surfer“, ist Cages Darstellung der Titelfigur die absolute Krönung. Sein Longlegs ist FAAAAAAR OUT, ein Puderweiß geschminkter und weiß gekleideter Sonderling mit weißen Haaren, in Look & Feel und auch stimmlich angelehnt an den bizarren Bänkelsänger Tiny Tim („Tip Toe Through The Tulips“) mit einem Poster von Marc Bolan an der Wand, ein Puppenmacher mit direktem Draht zu Satan, Mastermind eines so aberwitzigen und diabolischen Mordplans, dass der Film einen Großteil seiner beklemmenden Laufzeit damit verbringt, die Einzelteile zusammenzutragen. 

Oz Perkins’ „Longlegs“ mit Maika Monroe (Credit: DCM)

Man braucht eine Weile, um Cages ersten Auftritt ganz zu Beginn des Films zu verdauen, eine Art Rückblende, wie es scheint, in der man sieht, wie ein etwa zehnjähriges Mädchen in der Auffahrt zu ihrem einsam stehenden Haus in einer Schneelandschaft Merkwürdiges sieht und von dieser furchterregenden Kreatur konfrontiert wird. Die Kamera sorgt zunächst dafür, dass man das Gesicht nicht sieht, wenn dieser groteske Boogeyman in seinem eigenartig gepressten Singsang dem „Fast-Geburtstagsmädchen“ gratuliert, davon fabuliert, heute seine „longlegs“ zu tragen, während hinter ihm blätterlose Bäume aufragen wie lange dünne Beine, um schließlich in einem effektiven Schockmoment direkt in die Kamera zu brüllen. Spooky. Ein desorientierender Auftakt, ein Versprechen für den Rest des Films, voller schräger Kamerawinkel und erfüllt von einer Atmosphäre, als hinge ein zentnerschweres Gewicht an der Geschichte, ein Intro voller wichtiger und relevanter Informationen, auch wenn man sie in diesem Moment unmöglich verarbeiten oder deuten kann. Schnitt auf die Gegenwart. 

Gefasst in drei Kapitel („Seine Briefe“, „Alle diese Dinge“, „Birthday Girls“), folgt „Longlegs“ den Ermittlungen in einer unerklärlichen Mordreihe, in der sich ganze Familien gegenseitig auslöschen, verbunden nur mit der Tatsache, dass es Töchter gibt, die am 14. eines Monats geboren wurden. Weil sie über fast seherische Fähigkeiten verfügt, wird die junge FBI-Agentin Lee Harker, gespielt mit tragischem Ernst von Maika Monroe aus „It Follows“, in den Fall involviert und muss sich durch ein quälend feindseliges Mienenfeld schlagen, eine Clarice Starling, für die die Lämmer seit ihrer Kindheitsbegegnung mit dem Bösen nie aufgehören haben zu schreien wie Longlegs zu Beginn des Films. Oz Perkins, Sohn on Anthony Perkins, hat einen ganz eigenen, sehr expressiven Stil, der dem Film immer einen individuellen Anstrich gibt, die Welt von „Longlegs“ bezieht sich nur auf sich selbst, während die Versatzstücke bestens bekannt erscheinen, weil sie der Autor und Regisseur offenkundig bei den Klassikern des Serienkiller-Genres entlehnt hat: Die FBI-Agentin, die einem bizarren Serienmörder auf die Spur kommen will, kennt man aus „Das Schweigen der Lämmer“, und auch Longlegs selbst scheint sich Anleihen bei Ted Levines Buffalo Bill genommen zu haben. Die in einem merkwürdigen Code verfassten Briefes des Killers, mit denen er mit der Außenwelt kommuniziert und seine Taten erklärt, sehen den Rätseln des „Zodiac“ verblüffend ähnlich. Und was der Killer mitten in der Handlung des Films macht, um seinen irren Plan funktionieren zu lassen, hat man bereits in „Sieben“ gesehen. 

„Longlegs“ versteht es geschickt, diese disparaten Elemente zu einem ganz eigenen Passionsspiel zu verdichten, steuert dann aber auf eine Auflösung zu, die die Geschichte in dämonisch-überirdische Dimensionen führt. Während „Sieben“ die mysteriöse Schachtel hatte, die in die Wüste zu den beiden Cops und dem Killer geschickt wurde, und in „Das Schweigen der Lämmer“ Jodie Foster im Dunkeln den Killer jagt, der sie mit einem Nachtsichtgerät beobachtet, verlässt Oz Perkins den Boden der Tatsachen mit einem bitteren Finale, das die Mächte des Bösen beschwört und die Heldin mit der eigenen Kindheit konfrontiert. Verstörend ist es allemal, das metaphysische Ende, nur vielleicht nicht ganz so stark wie die besten Passagen des Films, wenn die Atmosphäre zum Schneiden dick ist und schließlich wie ein Satanus ex machina Nicolas Cage aus dem Schatten ins Zentrum der Bühne tritt: Was er da abzieht, ist so exaltiert, so überzogen, so irrwitzig, dass die Wirkung ähnlich erderschütternd ist wie damals, als Marc Bolan am 11. März 1971 mit seinem Auftritt in Top of the Pops („Hot Love“) die Glam-Ära begründete und im Pop danach nichts mehr so war wie vorher. Nicht von ungefähr begleiten T. Rex „Longlegs“ leitmotivisch mit drei Songs. Und dem Film steht ein Zitat aus „Get It On“ voran: You’re slim and weak / You‘ve got the teeth of the hydra upon you /You’re dirty sweet, and you’re my girl. Man wird den Song nie wieder so hören können wie zuvor: Alles, was „Longlegs“ berührt, verwelkt und stirbt ab. Und das ist ein Kompliment. 

Thomas Schultze