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REVIEW KINO: „Liebesbriefe aus Nizza“

Mit breitem Pinselstrich aufgetragene Publikumskomödie über einen pensionierten Patriarchen, dessen Welt ins Wanken gerät, als er alte Liebesbriefe seiner Frau entdeckt, die eine Affäre mit einem Freund hatte. 

CREDITS:
O-Titel: N’avoue jamais; Land / Jahr: Frankreich 2024; Laufzeit: 95 Minuten; Regie, Drehbuch: Ivan Calbérac; Besetzung: André Dussolier, Sabine Azéma, Thierry Lhermitte, Joséphine de Meaux, Sébastian Chassagne, Michel Boujenah; Verleih: Neue Visionen; Start: 1. August 2024

REVIEW:
Ein verletzter Löwe ist immer grausam! Sagt André Dussollier als François Marsault zu seiner Frau Annie, gespielt von der legendären Resnais-Muse Sabine Azéma, mit der er seit 40 Jahren verheiratet ist. Glücklich, wie er bislang immer geglaubt hat. Bis der pensionierte Patriarch von altem Schrot und Korn, ein ehemaliger hochrangiger Offizier, ein strenger Vater und aufrechter Konservativer, beim Stöbern im Dachboden auf alte Liebesbriefe eines Geliebten seiner Frau stößt, der ihre „bebenden Venushügel“ preist und wohl nicht nur ihren Körper, sondern auch ihr Herz gewonnen hatte. So viel Leidenschaft stößt François übel auf, der umgehend Rache schwört und damit die Handlung der neuen sonnendurchfluteten Komödie von Ivan Calbérac in Bewegung setzt. 

„Liebesgrüße aus Nizza“ mit Sabine Azéma und André Dussollier (Credit: Neue Visionen)

In seinen Filmen hat Calbérac stets ein Händchen für den Zusammenprall der älteren mit der jüngeren Generation, verschiedener Lebensphilosophien und Weltanschauungen, am erfolgreichsten bislang mit „Frühstück bei Monsieur Henri“, der 2015 im Fahrwasser von „Monsieur Claude und seine Töchter“ 580.000 Tickets in den deutschen Kinos verkaufen konnte, aber auch effektiv in Folgefilmen wie „Der Sommer mit Pauline“ oder „Weinprobe für Anfänger“. Stets sind sie ein bisschen dick aufgetragen, wird der breite Pinselstrich gewählt, bisweilen hart am Rand zum Boulevardesken, mit Gags, wie man sie auch in Peter-Alexander-Schwänken der Sechzigerjahre kaum anders gefunden hätte. 

Aber es ist eben auch eine effektive Form, sein Publikum zu erreichen. Denn darum geht es dem Kino von Ivan Calbérac: Es will unterhalten und mitnehmen, der im Fall von „Liebesbriefe aus Nizza“ doch tendenziell älteren Zielgruppe eine gute Zeit bereiten, ein bisschen lachen lassen und sie dann doch mit Gedankenfutter aus dem Kino zu entlassen. Wertkonservativ ist die grundlegende Haltung, aber eben auch ein bisschen frech und weltoffen, wie man es sich von französischen Großstädtern erwarten darf. Es wäre übertrieben zu sagen, dass sich die Stars des Films – neben Dussollier und Azéma ist da noch der ewig junge Thierry Lhermitte als Kontrahent des gekränkten Löwen, der nicht schlecht staunt, dass mit François auch seine Liebe von einst unvermittelt wieder in sein Leben stürmt – besonders strecken müssten. Es reicht einfach ihre Ausstrahlung und ein bisschen Gesichtsgymnastik, um alles zu sagen, was der Film sagen will. 

Natürlich reicht ein bisschen Hahnenkampf nicht aus, um 95 Minuten Laufzeit zu rechtfertigen. Während das fortwährende romantische Auf und Ab und das daraus resultierende Hinterfragen der persönlichen Lebensleistung im Mittelpunkt stehen und auch für ordentlich Tempo sorgen, öffnet der Film sein großes Herz auch in Richtung der erwachsenen Kinder der Eheleute Marsault, die stets auch zu leiden hatten unter der harten Hand des Vaters: Die eine traut sich nicht, den Eltern zu gestehen, dass sie seit Jahren eine glückliche Beziehung mit einer Frau hat. Der andere wird mitleidig belächelt, dass er seine Erfüllung als Puppenspieler gefunden hat. Natürlich geht es bei dem Best-Ager-Spaß auch um die Zähmung des widerspenstigen Patriarchen. Da ist „Liebesbriefe aus Nizza“ dann wieder ganz nah dran an den „Monsieur Claude“-Filmen, da entsteht seine Emotion. Bis dann der versöhnliche Schluss noch einmal eine tolle Finte parat hat.

Thomas Schultze