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REVIEW FILMFEST HAMBURG: „Könige des Sommers“

Herausragender Coming-of-Age-Film über einen 18-Jährigen in der französischen Provinz, der sich nach dem Tod des Vaters um seine siebenjährige Schwester kümmern muss und einen Käse-Wettbewerb gewinnen will.  

CREDITS:
O-Titel: Vingt Dieux (internationaler Titel: Holy Cow); Land / Jahr: Frankreich 2024; Laufzeit: 90 Minuten; Regie: Louise Couvoisier; Drehbuch: Louise Courvoisier, Theo Abadie; Besetzung: Clement Faveau, Maïwenne Barthelemy, Luna Garret, Mathis Bertrand, Dimitry Baudry; Verleih: Pandora Filmverleih; Start: 2. Januar 2025

REVIEW:
Heilige Scheiße – Vingt Dieux! Es ist ein Ausruf des Erstaunens, den man nicht mehr oft hört in Frankreich. Veraltet ist er, liest man, in Erinnerung gerufen und kurz wieder populär gemacht durch „Willkommen bei den Sch’tis“, dem erfolgreichsten französischen Film aller Zeiten, eine Ode an die Landbevölkerung – aber das ist auch schon wieder 16 Jahre her. Ansonsten ist er beschränkt auf die entlegeneren Gegenden des Landes, die Provinz, wie wohl eben dem Jura, wo das Regiedebüt von Louise Courvoisier angesiedelt ist. Sie selbst ist dort aufgewachsen, auf einem Bauernhof inmitten der Milchkammer des Landes. Man sieht dem Film an, dass er von jemand gemacht wurde, der die Menschen dort kennt, die Sitten, die Riten, das Leben, gekennzeichnet von harter Arbeit auf dem Land. Kühe, wohin man blickt. Gleich im ersten Bild sieht man ein Kälbchen, das in einem Auto sitzt. Um Milch wird es in der Folge auch gehen, um Käse, um Comté, genauer gesagt, das Markenzeichen der Käsereien im Jura. 

„Könige des Sommers“ von Louise Courvoisier (Credit: Pandora Filmverleih)

Heilige Scheiße. Dem 18-jährigen Totone rutscht der Ausruf ganz spontan heraus, als er hört, dass man beim alljährlichen Käsewettbewerb für den besten Comté bis zu 30.000 Euro gewinnen kann. Das wäre die Antwort auf all seine Stoßgebete, seitdem der Tod seines alleinerziehenden Vaters sein bisheriges Leben auf den Kopf gestellt hat. Sorgen- und ziellos war Totone bisher durchs Leben gegangen, dieser ungelenke, etwas hitzköpfige Junge mit dem runden Gesicht, der jeglicher Verantwortung aus dem Weg gegangen war, sich gerne mal zum Kasper gemacht, am Wochenende gefeiert, mit Mädchen rumgemacht hat. Und sich vor allem durch unbedachte schlechte Entscheidungen auszeichnet. Er setzt den schwertrunkenen Vater bei einem Volksfest hinters Steuer, damit er zuhause seinen Rausch ausschlafen kann. Er legt sich mit Jungs aus dem Nachbardorf an, die mit dem Mädchen flirten, das er toll findet. Er wird die junge Bäuerin verraten und belügen, in die er sich verliebt hat. Besetzt ist die Rolle perfekt mit Clement Favreau, wie alle anderen Darsteller ein Laie, dem man aber niemals anmerkt, dass er zum ersten Mal vor der Kamera steht.

Und er wird Gelegenheit haben, erwachsen(er) zu werden, Verantwortung zu tragen, zu sich zu finden, eine Vorstellung zu bekommen, wo sein Platz im Leben sein könnte, das ein fortlaufender work in progress ist. Louise Courvoisier beobachtet das im Verlauf eines entscheidenden Sommers ganz wunderbar mit ihrem einfühlsamen, genauen, empathischen Blick, der niemals den Stab bricht über seine Figuren und ihnen ihre Schwächen gönnt, weil sie doch Teil davon sind, wer sie sind, was sie ausmacht. Da muss man an „Close“ von Lukas Dhont denken, der ebenfalls einen Sommer einfängt, dabei aber schwärmerischer ist, fließender. „Könige des Sommers“ ist handfester, wie es das beschwerliche Leben von Bauern im Jura eben ist. Fünf Uhr morgens aufstehen, bis zehn Uhr abends schuften. Arbeit macht das Leben süß, süß wie Maschinenöl, sangen Ton Steine Scherben einmal, als gäbe es eine Alternative. Gibt es nicht, wenn man mit achtzehn konfrontiert ist, alle Verantwortung der Welt mit einem Mal auf den Schultern zu tragen. Aber die Regisseurin zeigt neben der Erschöpfung und Anstrengung, den kleinen Momenten, in denen Totone auch einmal allen Mut fahren lässt, wenn keiner zuschaut, den Kopf auf dem Arm ruhend, ratlos und rastlos, die positive Kehrseite: die Freunde, die Solidarität, die Selbstlosigkeit, mit der der eine sein geliebtes Stockcar-Auto eintauscht gegen einen Traktor, damit der beste Freund wieder eine Chance hat, die Entdeckung der Liebe und der Sexualität, die ersten Schritte als Käsemacher. Kleine Siege sind hier große Triumphe, kleine Rückschläge eine Katastrophe. 

„Könige des Sommers“ von Louise Courvoisier (Credit: Pandora Filmverleih)

All das ist wunderbar geradlinig eingefangen in einem Film, dem Louise Courvoisier den Kopf ganz gerade aufgesetzt hat, was eben auch ihr ungelenker Held für sich lernen muss in 90 Minuten, in denen einem die Figuren ans Herz wachsen. Besonders gelungen sind die Momente zwischen Totone und den drei weiblichen Figuren in dieser Geschichte, der hemdsärmeligen Bäuerin Lise-Marie, der patenten kleinen Schwester und einer erfahrenen Käserin, die Touristen in die Kunst des Käsemachens einführt. Sie sind es, die ihm den Weg weisen werden in dieser von Männern und einer unguten Form von Männlichkeit geprägten Welt. Neben „Armand“ von Halfdan Bergmann Tøndel und „Black Dog“ von Guan Hu war „Könige des Sommers“ eines der großen Highlights in der diesjährigen Nebenreihe Un Certain Regard in Cannes, konnte den Jugendpreis gewinnen. Alle drei werden in Deutschland erstmals auf dem 32. Filmfest Hamburg zu sehen sein, das Debüt von Louise Courvoisier an besonders exponierter Stelle als Eröffnungsfilm. Eine gute Wahl, kann man jetzt schon sagen, weil der Film sich nicht vor den Härten des Lebens drückt, den Zuschauer aber dennoch mit einem Hochgefühl entlässt. Heilige Scheiße – was für eine Entdeckung!

Thomas Schultze