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REVIEW KINO: „Gloria!“

Originelles musikalisches Drama über eine Gruppe von Mädchen in einer Klostermusikschule, die im Venedig des 18. Jahrhunderts die Popmusik erfinden.

CREDITS:
Land / Jahr: Italien, Schweiz 2024; Laufzeit: 106 Minuten; Regie: Margherita Vicario; Drehbuch: Margherita Vicario, Anita Rivaroli; Besetzung: Galatéa Bellugi, Carlotta Gamba, Maria Vittoria Dallasta, Sara Mafodda; Verleih: Neue Visionen; Start: 29. August 2024

REVIEW:
Wenn einem Popmusik an ihren Anfängen in den Fünfziger- oder Sechzigerjahren ketzerisch vorgekommen sein mag, eine Ausgeburt Satans, wie hätte sie auf Menschen im Jahr 1800 wirken mögen? Diese Frage stellt sich die Musikerin und Schauspielerin Margherita Vicario in „Gloria!“, ihrem Regiedebüt, einer der Lichtblicke in der ewigen Tristesse des Wettbewerbs der diesjährigen Berlinale abseits der deutschen Beiträge („Sterben“, „In Liebe, Eure Hilde“). Und sie gibt auch gleich die Antwort: Man hätte sie als Angriff auf die bestehende Ordnung empfunden. Und doch ist sie nicht aufzuhalten, weil sie ausdrückt, was wirklich vorgeht im Herz und Verstand junger Frauen, ohne dass sie es verbalisieren könnten, geschweige denn dürften im streng patriarchalischen Italien des frühen 19. Jahrhunderts. 

„Gloria!“ von Margherita Vicario (Credit: Neue Visionen)

Wie ein neuer Wind Einzug hält, davon erzählt Margherita Vicario in ihrem beschwingt subversiven, schlau ahistorischen und pfiffig revisionistischen Film, der dem Erzählmuster eines klassischen Crowdpleasers folgt, die Publikumsfreundlichkeit aber klug wie ein trojanisches Pferd nutzt, um innerhalb dieses Rahmens zu erzählen von göttlicher Inspiration und dem Streben nach Freiheit, aller Konventionen und strengen Regeln zum Trotz. Die Kadenzen moderner Musik, mögen sie Pop oder Jazz sein, sind hier einfach nur Inbegriff dessen, was sich im Inneren dieser jungen Frauen abspielt. Eine erste musikalische Szene, in der sich vor dem geistigen Auge der Hauptfigur Alltagsgeräusche zu einem rhythmischen Gesamtbild zusammenfügen, wäre auch in „Emilia Pérez“ nicht fehl am Platze.

Sie dient indes dazu zu untermalen, dass ein vermeintlich namenloses Mädchen, von allen nur „Die Stumme“ genannt und scheel angesehen von den anderen jungen Frauen im Kollegium Sant Ignazio, einer ärmlichen Klostermusikschule für gefallene Mädchen vor den Toren von Venedig, zu Höherem bestimmt sein könnte, als nur die niedersten Hausdienste zu verrichten. Tatsächlich bedarf es eines gespendeten und vom alten Kapellmeister in einer Abstellkammer deponierten „Höllengeräts“, die Mädchen schließlich zusammenzubringen und den Aufstand gegen die alte Ordnung zu proben, verkörpert durch den ungerechten Kapellmeister, der an einer neuen Komposition zu Ehren des neuen Papstes zu scheitern droht. Um ein Klavier handelt es sich, das „Die Stumme“ wie selbstverständlich zu spielen weiß mit Melodien, die entschieden anders klingen als Vivaldi, und ihr das Selbstbewusstsein geben, sich vor den anderen Mädchen als Teresa zu offenbaren und auf einmal eine Stimme zu finden. Galatéa Bellugi, die man kennt aus „Die Erscheinung“ und „Geliebte Köchin“, aber erst hier erstmals überzeugend zum Strahlen gebracht wird, ist eine Wucht als junge Frau, die die Musik in sich trägt.

Man müsste lügen, wenn man behaupten würde, die Handlung sei nicht holzschnittartig und vorhersehbar. Aber um sie funktionieren zu lassen, muss dennoch erst einmal alles passen, die Atomsphäre, die künstlerische Gestaltung, die Figurenzeichnung. Und natürlich die Musik und ihr Einsatz im filmischen Zusammenhang. Sehr stimmungsvoll wurde „Gloria!“ fotografiert, mit milchigen Bildern wie aus alten Gemälden oder wenigstens „Barry Lyndon“, mit viel Dunkel um die Szenerie erhellendes Kerzenlicht. Während die einzelnen Figuren jeweils ihr eigenes Päckchen zu tragen haben, Vicario von unterdrückten Gefühlen und emotionalem Verrat erzählt, sind es dann die Musikszenen, die den Film, von Schweizer Seite von der Zürcher Tellfilm produziert, wirklich zum Klingen bringen, ihm seine ganz eigene, unverkennbare Identität verleihen, ein „Amadeus“ mit Girl Power, fast 200 Jahre, bevor die Welt ahnte, was das wohl bedeuten könnte. Und ihn auch zu positionieren als reizvolles Angebot für ein Publikum, das gerne abgeholt werden will von ihrer Wahl im Kino, dabei aber nach origineller, ansprechender Unterhaltung mit dem gewissen Etwas sucht. 

Thomas Schultze