Login

REVIEW KINO: „Dìdi“

Berührendes, teils autobiografisches Coming-of-Age-Drama aus der Perspektive eines 13-jährigen taiwanesisch-amerikanischen Teenagers.

CREDITS:
O-Titel: Dìdi; Land/Jahr: USA, 2024; Laufzeit: 94; Drehbuch: Sean Wang; Regie: Sean Wang; Besetzung: Izaac Wang, Joan Chen, Chang Li Hua, Shirley Chen, Raul Dial, Aaron Chang, Mahaela Park; Verleih: Universal Pictures; Start: 15. August 2024

REVIEW:
Der Held dieser Coming-of-Age-Geschichte ist, ehrlich gesagt, nicht gerade der Typ, den man auf Anhieb liebenswert findet. Der Film beginnt mit einem wackeligen Videoclip, in dem er mit seinen Freunden einen Briefkasten in die Luft jagt und vor der bestürzten, älteren Besitzerin davonrennt, mit seinem triumphierenden Zahnspangengrinsen im Freeze Frame, wie ein „Jackass“-Prank auf Kosten anderer. Chris Wang ist besonders fies zu seiner älteren Schwester Vivian (Shirley Chen), die ihren Umzug aufs College vorbereitet, schon seine Schimpfwörter für sie dürften für das R-Rating des Films gesorgt haben. Er hat keinen Respekt vor seiner Mutter Chungsing („Twin Peaks“-Legende Joan Chen), die ihn quasi allein erzieht – der Vater arbeitet in Taiwan und ist daher dauernd abwesend. Und dass die Großmutter (Chang Li Hua, die echte Großmutter und eine der Protagonistinnen aus Sean Wangs Oscar-nominiertem Kurzfilm „Nǎi Nai & Wài Pó“) kein gutes Haar an Chungsing lässt, liegt vor allem daran, dass sie die Schwiegertochter für das schlechte Benehmen des Enkels verantwortlich macht. Chris ist unverschämt und aggressiv und versteckt selbst beim Abendessen den Kopf unter dem Hoodie, den er aus dem Zimmer seiner Schwester entwendet hat, als er in ihre Bodylotion gepinkelt hat. Kurz gesagt: Er ist 13, und es tut sehr weh, ihm dabei zuzusehen. 

Izaac Wang in Sean Wangs „Dìdi“ (Credit: Focus Features / Talking Fish Pictures)

In seinem Kinodebüt, das zum Teil auf eigenen Kindheitserfahrungen beruht, begleitet Sean Wang sein jugendliches Alter Ego während der Sommerferien des Jahres 2008, vor Beginn der High School, in seiner Heimatstadt Fremont in der Bay Area um San Francisco, wo mehr als die Hälfte der Einwohner asiatischer Abstammung sind wie unter anderem auch Chris‘ „Bros“ Fahad (Raul Dial) und „Soup“ (Aaron Chang). Die toxische Ausdrucksweise aller Kids in Wangs Film lässt einen aus heutiger Sicht zusammenzucken, es ist die Pre-Wokeness-„Jackass“-Ära, jeder Satz und jede Textnachricht auf dem Motorola Flip Phone enthält eine beiläufige homophobe oder rassistische Beleidigung. Chris gehört zur ersten Generation, deren Leben sich mehr vor dem Bildschirm als in der Realität abspielt, wo Freundschaften auf Facebook geschlossen oder per AOL Instant Messenger beendet werden. Seinen Schwarm Madi (Mahaela Park) kennt er bis dahin nur von ihrer MySpace-Seite, und ihr erstes und damit einziges Date vermasselt er komplett, weil ihm ohne Hilfe des Internets nicht einmal eine Antwort auf die Frage einfällt, ob er „E.T.“ mochte oder „Star Wars“ gesehen hat. Lieber blockiert er anschließend das Mädchen seiner Träume, als zuzugeben, dass er nervös und unsicher ist. 

Kurz darauf scheitert er so erbärmlich bei dem Versuch, cool und lässig und unterhaltsam wie Fahad zu sein, dass er sogar seinen besten Freund verprellt, weil er allen erzählt, wie sie in dem anfangs erwähnten Briefkasten einmal ein totes Eichhörnchen gesprengt haben. Als er sich bei einer Gruppe älterer Skater-Nerds als Videofilmer anpreist und behauptet, er könne ihre Tricks mit seinem Camcorder aufnehmen, muss er einsehen, dass ihn die von Google empfohlene Verwendung einer Fischaugenlinse noch nicht zum Profi macht. Und er ist nicht einmal gut darin, seine Schwester richtig zu hassen, die trotz allem für ihn da ist, nachdem er meint, auf einer Party einen Joint „wu-tangen“ zu müssen. Es ist nicht zu übersehen, wie sehr Chris die Frauen in seinem Leben und seine Familie braucht, für die er sich ebenso schämt wie für seine Pickel und seine Zahnspange, die Mutter, die überall im Haus ihre selbstgemalten Ölbilder aufhängt, sich ständig nach seiner Verdauung erkundigt und Chris noch immer mit dem kindlichen Kosenamen „Dìdi“ anspricht. Seine Bemühungen, jemand anderes zu sein, als er ist, um nicht verletzlich oder emotional oder weiblich zu wirken, gehen zwangsweise nach hinten los, weil ihm einfach die Skills fehlen.

Der junge Schauspieler Izaac Wang („Good Boys“), der kaum älter ist als seine Figur, bringt deren unheimliche Cringeworthyness, Unbeholfenheit und Peinlichkeit phänomenal zum Ausdruck, er lässt oberflächlich alles an Chris abprallen, mit verklemmter Mine und zusammengekniffenen Lippen, während in seinem Inneren die Wut und die Hormone offensichtlich verrückt spielen. Sean Wangs smartes Drehbuch trifft perfekt den Nerv, das Denken, Handeln und die Lebensrealität seiner Charaktere, was auch daran liegt, dass er ihnen so viel Screentime zugesteht und sich Zeit nimmt für die akribische und nostalgische Darstellung von Old-School-Chatfenstern. Seine Geschichte bewegt sich so selbstverständlich zwischen der echten und der virtuellen Welt, wie man es selten in einem Film über die Nuller-Jahre gesehen hat. „Dìdi“ ist in vielerlei Hinsicht ein Seelenverwandter von Bo Burnhams „Eighth Grade“, der ebenfalls davon handelt, wie das Internet der eigentlich schönsten Zeit des Lebens die Unschuld und Unbeschwertheit raubt, und von Jonah Hills „Mid 90s“ mit seiner kindlichen Perspektive auf das flirrende Endless-Summer-Suburbia-Feeling, mit seiner Mischung aus Realismus und Skatervideo-Ästhetik, und manche Szenen scheinen direkt der Fantasie von Spike Jonze entsprungen zu sein (der nicht zufällig dem animierten Eichhörnchen seine Stimme leiht). Wangs sehr persönliches Coming-of-Age-Drama fühlt sich mitunter wie eine Verbeugung vor dem großen Vorbild an, aber noch mehr wie eine Hommage oder sogar Entschuldigung an seine Mutter: Joan Chens ergreifend gespielte Chungsing erträgt alle Demütigungen, ringt um Respekt und Würde und mit der eigenen Kulturscham, und obwohl Chris‘ quälende Teenage Angst eben auch darin besteht, so zu werden wie seine Mutter, lässt sie keinen Zweifel daran, dass er alles Gute von ihr geerbt hat, das künstlerische Talent, die Großzügigkeit und Güte und die irgendwo unter der Kapuze verborgene Liebenswürdigkeit. Wenn er ganz zum Schluss lange und eindringlich ihr Gesicht betrachtet, liegt in seinem Blick so viel berührende Selbsterkenntnis, dass die Qualen des Dreizehnseins schon fast vergessen sind. Aber da hat man „Dìdi“ ohnehin längst ins Herz geschlossen.

Corinna Götz