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REVIEW KINO: „Das Flüstern der Felder“

Prachtvoll animierte Verfilmung des Jahrhundertromans „Die Bauern“ von Władysław Reymont, in dem der Fokus auf die Magd Jagna gelegt wird, die zwischen einem Großgrundbesitzer und dessen verheirateten Sohn steht. 

CREDITS:
O-Titel: Chłopi; Land / Jahr: Polen, Serbien, Litauen 2023; Laufzeit: 115 Minuten; Regie & Drehbuch: DK & Hugh Welchman; Besetzung: Kamila Urzedowska, Robert Gulaczyk, Miroslaw Baka, Sonia Mietielica; Verleih: Plaion Pictures; Start: 12. September 2024

REVIEW:
Jedes Bild ein Gemälde. Sagt man gerne schwärmerisch bei visuell besonders prächtig geratenen Werken. Im Fall der Filme des Regieduos (und Ehepaares) DK und Hugh Welchman trifft es tatsächlich zu: In ihren Arbeiten findet der Dreh zunächst mit Schauspielern an realen Sets statt, im Anschluss wird jedes Bild per Hand von Künstlern im Öl nachgemalt und in einem aufwändigen, zeitintensiven Prozess zu einem Animationsfilm zusammengesetzt. Die Wirkung ist stupend: Es ist, als würde man zum Leben erweckten Gemälden zusehen. Das machte vor sieben Jahren den ersten Film des filmemachenden Ehepaares zum Event, „Loving Vincent“, der seinerzeit der erste Film in dieser wundersamen Machart war: Er wurde für einen Golden Globe und einen Oscar als bester Animationsfilm nominiert und spielte weltweit knapp 45 Millionen Dollar ein.

„Das Flüstern der Felder“ von DK & Hugh Welchman (Credit: Plaion Pictures)

Das Flüstern der Felder“ ist nun unverkennbar das neue Werk seiner Macher, aber in gewisser Weise auch der Gegenentwurf des Vorgängers, der die Gemälde Van Goghs als Vorbild nahm, um eine Art Innenansicht zu bieten, in Verstand und Vorstellungswelt des Malers im letzten Jahr seines Lebens einzutauchen. Der neue Film richtet seinen Blick von draußen auf die Geschehnisse, er wählt die Außenansicht, macht sich eins mit den Künstlern, die man für die visuelle Ausgestaltung emuliert. Er sieht zu, was passiert, und er nimmt die Werke polnischer Maler des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, um diesen Effekt auf ganz unvergleichliche Weise zu erzielen. Diese Meister sind nicht von ungefähr gewählt, korrespondiert ihre Perspektive doch mit der Vorlage, die DK und Hugh Welchman hier zur Adaption gewählt haben.

Der Schriftsteller Władysław Reymont zählt als Vertreter des Realismus und Mitglied der Bewegung Junges Polen zu den großen polnischen Romanciers, wurde 1924, ein Jahr vor seinem Tod, für sein zwischen 1901 und 1908 entstandenes Meister- und Mammutwerk „Bauern“ mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt. Reymont wird in einem Atemzug genannt mit Dickens, Zola und Hardy, wobei letzterer im Fall von „Das Flüstern der Felder“ wohl eine besondere Rolle spielt. Zwar handelt es sich bei dem Film um eine Adaption von „Bauern“, der seine Handlung wie die Vorlage an den vier Jahreszeiten entlang entfaltet, allerdings richtet er seinen Fokus verstärkt auf eine der vier Hauptfiguren des Romans, die Magd Jagna, die hier zwischen zwei Männern steht, dem reichen Großgrundbesitzer Boryna und dessen neiderfüllten Sohn Antek. Dieser betont weibliche Blick – auch das ein Gegenentwurf zu „Loving Vincent“ – erinnert an Thomas Hardys „Tess von den d’Urbervilles“, in dessen Mittelpunkt ebenfalls eine einfache junge Frau zwischen zwei Männern steht. Auch an dessen Verfilmung, „Tess“ von Roman Polanski aus dem Jahr 1979, muss man wiederholt denken, wenn sich aus dem in viel Lokalkolorit getränkten Sittengemälde einer ländlichen polnischen Gemeinde langsam die zentrale Handlung schält. 

Das detailgenaue Porträt von Ort und Zeit, der Streifzug entlang der Menschen und ihrer Schicksale ist intrinsisch verbunden mit der Identität des Romans, die Chronik eines Lebens voller Härten und Entbehrungen, nur vereinzelt unterbrochen von ausschweifenden Festen wie in den Filmen Ciminos. Dies verleiht auch dem Film eine ungewöhnliche Tiefe, auch wenn sich vieles von dem, was sich bei Reymont auf mehr als 1000 Seiten abspielt, in einem 115-minütigen Film nur kursorisch anreißen lässt. Und doch packt das Fleisch auf die Rippen, macht den erzählerischen Ansatz unverkennbar, wenn die künstlerisch begabte und freidenkende Jagna zum Opfer der beiden um sie ringenden Männer und des anhaltenden Tratschs im Dorf wird: Das ist anrührend und zupackend gefilmt mit Kamila Urzedowska, Robert Gulaczyk und Miroslaw Baka in den Hauptrollen und dann bisweilen atemberaubend in Öl animiert von einer ganzen Phalanx von Malern unter der künstlerischen Leitung von Piotr Dominikak

Zu „Loving Vincent“ schrieb der US-Kritiker Mick LaSalle vom San Francisco Chronicle, der Film sei konzeptionell und technisch brillant und für zehn Minuten, vielleicht sogar 15, einer der großartigsten Animationsfilme aller Zeiten: Ähnlich verhält es sich auch hier: Man ist förmlich überwältigt von der ungewöhnlichen Pracht der Bilder, kann sich dann aber doch des Eindrucks nicht erwehren, dass der fortwährend innovative visuelle Ansatz ab einer gewissen Zeit doch nicht auch kontraproduktiv ist: Man ist so sehr beschäftigt mit Schauen und Staunen, dass der emotionale Zugang zu der Geschichte verwehrt bleibt. Dabei sollte man doch Weinen mit dem Schicksal von Jagna, diese bedauernswerte Frau, die von der Realität ihrer Existenz zerrieben wird. 

Thomas Schultze