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REVIEW KINO: „Cranko“

Biopic, Tanzfilm und Liebeserklärung an den Star-Choreografen John Cranko und das „Stuttgarter Ballettwunder“.

(Credit: Wolfgang Ennenbach/Zeitsprung Pictures/SWR/Port au Princ Pictures)

CREDITS:
O-Titel: Cranko; Land/Jahr: Deutschland, 2024; Laufzeit: 128 Minuten; Drehbuch: Joachim A. Lang; Regie: Joachim A. Lang; Besetzung: Sam Riley, Max Schimmelpfennig, Lucas Gregorowicz, Hanns Zischler, Friedemann Vogel, Elisa Badenes, Jason Reilly; Verleih: Port aus Prince Pictures; Start: 3. Oktober 2024

REVIEW:
Es ist der zweite Film von Joachim A. Lang, der in diesem Jahr in die Kinos kommt, seine dritte Arbeit für die große Leinwand nach dem Arthouse-Hit „Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm“ und dem Doku-Drama „Führer und Verführer“. Wieder geht es um eine reale Person der deutschen Zeitgeschichte, wieder um einen Menschen, der die große Bühne sucht: John Cranko, geboren in Südafrika, ausgebildet in Kapstadt und London, feierte schon mit Anfang 20 Erfolge als Choreograf des Royal Ballet und avancierte ausgerechnet in der schwäbischen Provinz zum international gefeierten Popstar. Er verstarb 1973, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, nachdem er nichts anderes als ein Wunder vollbracht hatte – das „Stuttgarter Ballettwunder“, wie es ein amerikanischer Kritiker nach dem triumphalen Auftritt der Kompanie an der New York Metropolitan Opera formulierte.

Im Jahr 1960, in dem der Film beginnt, soll Cranko, der in England wegen „beharrlicher Aufdringlichkeit gegenüber Männern zu einem unmoralischen Zweck“ in Ungnade gefallen ist, eigentlich nur ein Gastspiel für die Württembergischen Staatstheater inszenieren. Doch der offen schwul lebende Künstler erobert auf Anhieb die Herzen des Publikums und fühlt sich hier so willkommen, dass er anschließend die Stelle des Ballettdirektors übernimmt. Innerhalb kürzester Zeit entstaubt er das klassische Opernballett, stellt ein ungewöhnliches Ensemble aus lauter „Leftovers“ zusammen, Talente, an die sonst niemand glaubt, darunter die später berühmte Marcia Haydée, die er zunächst sehr zum Missfallen des Intendanten Walter Erich Schäfer (Hanns Zischler) und des Ballettförderers Fritz Höver (Lucas Gregorowicz) zur Primaballerina ernennt. Er setzt sich gegen alles durch, was er als zu deutsch empfindet, verlegt sein Büro in die Kantine und in die griechische Kneipe, macht die Theater- zu seiner Wahlfamilie, die ihm mit bedingungsloser Liebe und Loyalität zur Seite steht, wenn er verzweifelt, an Depressionen, an der Alkoholsucht, an schlechten Kritiken und an seiner Einsamkeit, weil er unbequem und exzessiv ist, und weil es keiner seiner Lover, die er an der Autobahnraststätte oder am Bühneneingang anspricht, lange mit ihm aushält. Jede Ablehnung, jeder emotionale Tiefpunkt treibt ihn weiter an – „Jetzt müssen wir noch härter arbeiten“, heißt es nach jeder stehenden Ovation. „Ich habe noch viel vor“, sagt er kurz vor seinem unerwarteten Tod auf dem Rückflug von einer Tournee.

Cranko ist eine Ausnahmeerscheinung in der Theaterwelt, er sucht das Gefühl, das eine Bewegung vermittelt, nicht die technische Perfektion. Es gibt weder Aufnahmen von zerschundenen Spitzenschuhen noch ermüdende Pliés an der Tanzstange in Joachim A. Langs aufwendig recherchiertem Biopic, und doch ist dies durch und durch ein Ballettfilm, ergreifend wie „Romeo & Julia“, tragisch wie „Die roten Schuhe“. Wie in Michael Powells und Emeric Pressburgers Meilenstein des Genres wurden auch hier Tänzer statt Schauspieler besetzt, allesamt Mitglieder des Stuttgarter Balletts, mit der herausragenden Elisa Badenes in der Rolle der Marcia Haydée. Dass manches etwas verkünstelt wirkt, mag eher dem deutschsprachigen, mitunter theatralischem Text als der fehlenden Kamera-Erfahrung des internationalen Ensembles geschuldet sein. Aber darüber hört und sieht man gerne hinweg, denn „Cranko“ ist in jedem Moment eine mitreißende One-Man-Show von Sam Riley, der mit seinem britischen Akzent und der markanten, rauchigen Stimme, dem Bohemian-Look und dem tieftraurigen, sehnsuchtsvollen Blick dem Titelhelden aus der Seele spricht. 

Alles folgt diesem Blick in Joachim A. Langs Film – die Handlung, die Tänzer, die Kamera, die demonstrativ an das Gesicht des Künstlers zoomt und die schönsten Ballettszenen in seinen Augen widerspiegelt. Lang zeigt, wie Cranko seine Kindheitserinnerungen, Musik und Worte in Bewegungen übersetzt und wie seine Kompositionen entstehen, im Studio, im Foyer und auf der Bühne, überall, wo er geht und steht. Mit der Leichtigkeit eines Musicals und begleitet von den Einspielungen des Staatsorchesters werden so Tanz und Story verwebt. Crankos ikonische Clowns, die in vielen seiner Stücke die Tragik und Komik des Menschseins verkörpern, nehmen vor ihm auf einer Parkbank Platz, das Ballettcorps schwebt förmlich durch den Schlossgarten, der in ein magisches Rampenlicht getaucht wird wie die Hollywood Hills in „La La Land“. Die zauberhafte Bildgestaltung ist Philipp Sichler („Bad Director“) zu verdanken, der die Melancholie, Zartheit und Komplexität der Choreografien im Wechsel von Nahaufnahmen und Totalen einfängt, er positioniert die Kamera zwischen den Tänzern, umkreist sie, folgt ihren Schritten. Und so wie Wim Wenders mit „Pina“ der Stadt Wuppertal ein Denkmal gesetzt hat, lässt Sichler Stuttgart erstrahlen, insbesondere die beeindruckende Architektur des Opernhauses. 

Zugleich zeichnen die Bilder ein Sittengemälde des Deutschlands der Sechziger- und frühen Siebzigerjahre, eine Kulturlandschaft, in der ein homosexueller Künstler mit offenen Armen empfangen wird, die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit aber ein Tabuthema ist: Bei der Uraufführung von Peter Weiß’ Theaterstück „Die Ermittlung“ sitzt Cranko, der selbst die Apartheid in Südafrika und Diskriminierung erlebt hat, in den Reihen der Zuschauer, die die Inszenierung mit „Volksverhetzer“- und Buh-Rufen quittieren. „Habt ihr denn gar nichts verstanden“, brüllt Cranko schließlich selbst fassungslos, als sich eine kleine Gruppe seines Ensembles darüber beklagt, dass darin immer weniger Mitglieder einen deutschen Pass besitzen. Es ist ein Wendepunkt in seiner Karriere, mehr und mehr konzentriert er sich darauf, Kunst zu schaffen, von der Veränderung ausgehen muss – eben das, was auch Joachim A. Lang anstrebt. Wie zuletzt in „Führer und Verführer“ arbeitet der Filmemacher auch hier mit Archivmaterial, in diesem Fall, um den Aufstieg der Kompanie und deren Reise nach New York zu dokumentieren. Und wenn ganz zum Schluss die echten, noch lebenden Tänzer mit ihren jüngeren Alter Egos Hand in Hand auftreten, wird „Cranko“ zu einer wundervollen Liebeserklärung an die Menschen, die mit Bewegung auszudrücken vermögen, was man mit Worten nicht sagen kann. Man muss tatsächlich kein Theaterkenner sein, um davon berührt zu werden, wie der Film die Schönheit und das Wesen des Balletts auf die Leinwand bringt. „Jeder kann es verstehen“, erklärt Cranko anfangs dem schwäbelnden Taxifahrer, der später bei der Premiere von „Romeo & Julia“ vor Rührung in sein Taschentuch schluchzt. „Es geht um Liebe und Leidenschaft, es geht um alles – das müssen sie sehen.“

Corinna Degner