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REVIEW KINO: „Berlin Nobody“

Beklemmender Thriller über einen Bestsellerautor, der in Berlin nach einem bizarren Kult forscht und nicht merkt, dass seine aus den USA angereiste 16-jährige Tochter selbst in undurchsichtige Kreise abdriftet.

CREDITS:
Land / Jahr: Deutschland, USA 2024; Laufzeit: 94 Minuten; Regie & Drehbuch: Jordan Scott; Besetzung: Eric Bana, Sadie Sink, Sylvia Hoeks, Sophie Rois, Jonas Dassler, Stephen Kampwirth, Lola Feith; Verleih: SquareOne; Start: 1. August

REVIEWS:
Teilweise entschleunigt Jordan Scott ihren zweiten Spielfilm so sehr, dass er förmlich zu mäandern scheint, in einer Zwischenstufe zwischen Realität und Traum existiert, nicht greifbar und doch handfest in der Eindeutigkeit, wie sich die Handlung auf einen Höhepunkt zubewegt, der dem Genre des Okkultthrillers geschuldet und doch zwingend ist. Ein bisschen schimmern dann „Das Omen“ und „Wicker Man“ durch, vielleicht auch zu Unrecht im Schlamm der Zeit verschwundene übernatürliche Thriller wie „The Mothman Prophecies“ oder „Frequency“, als man noch Hoffnung hatte, Regisseure wie Gregory Hoblit oder Mark Pellington würden das Genre neu erfinden können. Aber besonders hat man natürlich die Bilder aus Guyana vor Augen, als Jim Jones 1978 im berühmt-berüchtigten Jonestown-Massaker mehr als 900 Mitglieder seiner Sekte in den kollektiven Selbstmord führte, oder erinnert sich an die Aum-Sekte, die 1995 in der U-Bahn von Tokio einen verheerenden Giftgasanschlag mit Sarin verübte. 

Jordan Scotts „Berlin Nobody“ mit Sadie Sink und Eric Bana (Credit: SquareOne)

Nur dass der Kult in Jordan Scotts Film mitten in Berlin ansässig ist, wohin die Filmemacherin, Tochter von Ridley, Nichte von Tony Scott, die Handlung des von ihr selbst adaptierten Romans „Tokyo“ von Nicholas Hogg verlegte. Das ist reizvoll, gewiss, und Sophie Rois gibt eine absolut tolle Figur ab als Sektenführerin mit ihrem stechenden Blick und ungewöhnlichen Diktion, aber bisweilen fühlt es sich auch etwas off an, scheint etwas in der Übersetzung von Japan nach Deutschland verloren gegangen. Aber auch das macht einen gewissen Reiz aus, sorgt für einen faszinierenden Disconnect. Und letztlich geht es genau darum für die Hauptfiguren in „Berlin Nobody“: Das Thrillerkonstrukt verleiht dem Film seine Form, sorgt für äußere Spannung – auf welche Katastrophe wird die Handlung zusteuern? Aber vor allem ist er interessiert daran, wie die Figuren sich verloren haben in ihrem Leben. 

Die Hauptfigur wird von Eric Bana gespielt, ein Sozialpsychologe, der das Verhalten von Gruppen erforscht und seine Erkundungen in erfolgreichen Büchern veröffentlicht: die Macht der Gemeinschaft, den Wunsch des Einzelnen, sich anzupassen, die Vor- und Nachteile der Zusammenarbeit in der Menge und Sekten. Jetzt wird er involviert in einen bizarren rituellen Selbstmord, was ihn eine für die Überwachung von Sekten zuständige Ermittlerin des Bundesverfassungsschutzes, gespielt von Sylvia Hoeks, kennenlernen lässt, für die er sich bald nicht nur auf beruflicher Ebene interessiert. Seine Arbeit soll ihn indes auch ablenken von einer problematischen Scheidung und einem folgenschweren Fehler, der vor Jahren fast dazu geführt hätte, dass seine Mazzy ertrunken wäre. Jetzt kommt die mittlerweile 16-Jährige, gespielt von Sadie Sink aus „Stranger Things“ und „The Whale“, zu Besuch nach Berlin, was alte Schuldgefühle wieder aufflammen lässt, während Mazzy Distanz zu dem von ihr entfremdeten Vater hält und sich lieber mit einem Jungen aus Berlin trifft, den sie auf dem Flug nach Deutschland kennengelernt hat, gespielt von Jonas Dassler wie ein moderner Werther, gequält von Schwermut und Unzufriedenheit mit einer aus den Fugen geratenen Welt. Er bringt sie mit der Sekte in Berührung, das letzte Puzzlestück, das die von Sophie Rois gespielte Figur benötigt, um ihren Wahnsinnsplan umzusetzen. 

Nicht immer gelingt es Jordan Scott, die so disparaten Einzelteile zusammenzubringen in diesem Film, der immer auf der Suche zu sein scheint, oft eine mobile Kamera über den Dächern von Berlin Straßen entlangstreifen lässt, wie um sich selbst zu finden. Immer wieder gelingen eindringliche Bilder, manche von ihnen lassen in der Komposition durchaus eine Verwandtschaft zur Ästhetik ihres berühmten Vaters erkennen, ohne allerdings auf dessen mühelose Dynamik zuzugreifen. Man sieht zu und ist fasziniert. Aber nur selten ist man so richtig mittendrin, ist man gefangen zwischen Realität und Traum, aber nicht so sehr auf Leben und Tod. 

Thomas Schultze