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REVIEW KINO: „Auf trockenen Gräsern“

Brillanter, aber auch langer Film über einen Kunstlehrer in einer kleinen anatolischen Gemeinde, dessen selbstgefällige Lebenssicht auf eine harte Probe gestellt wird.

CREDITS:
O-Titel: Kuru Otlar Üstüne; Land/Jahr: Türkei, Deutschland 2023; Laufzeit: 197 Minuten; Regie: Nuri Bilge Ceylan; Drehbuch: Akin Aksu, Ebri Ceylan, Nuri Bilge Ceylan; Besetzung: Deniz Celiloglu, Merve Dizdar, Musab Ekici; Verleih: Eksys’tent; Start: 16. Mai 2024

REVIEW:
Niemand würde Nuri Bilge Ceylan, den wichtigsten Filmemacher der Türkei, der 2014 für „Winterschläfer“ die Goldene Palme in Cannes gewinnen konnte, jemals der Leichtigkeit, womöglich gar der Verschmitztheit bezichtigen. Seine Filme sind karge Angelegenheiten. Zerfurchte Landschaften, zerfurchte Gesichter, einsame Gegenden, einsame Männer. Da reiht sich auch „Auf trockenen Gräsern“ ein, der als deutsche Koproduktion mit Komplizen Film entstand. Und doch, da schwingt etwas mit, das wie ein Messer schneidet durch die Ernsthaftigkeit der Szenerie…. Kann man es vielleicht Verspieltheit nennen? Was auch immer es ist, es tut gut. Es britzelt, wenn man so will, wie die Flocken, die im Gestöber der ersten Szene auf das Mikro des Tonmannes fallen und mit einem Zischlaut schmelzen. Und irgendwie schön einstimmen auf einen langen und langsamen Film, knapp 200 Minuten, der einen aber zunehmend elektrisiert, wenn man es als Zuschauer nur zulässt: Es ist eine fast radikale Abrechnung mit dem Machismo türkischer Männer, ein furioser Schuss vor den Bug. Und doch ein ganz zarter und zärtlicher Film. 

Wie klein die Menschen doch sein können, wenn die Götter mitreden in „Auf trockenen Gräsern“ (Credit: Nuri Bilge Ceylan)

„Manchmal sagt einer die Wahrheit nur deshalb, um dahinter eine größere Lüge verstecken zu können.“ Dies ist ein Schlüsselsatz, den man sehr früh hört in „Auf trockenen Gräsern“ und um den sich die Erzählung wiederholt dreht, in immer wieder neuen Gesprächen, bisweilen endlos lang, aber auch ein Geschenk, wenn man bereit ist zuzuhören. Von den kleinen Notlügen wird erzählt, die ein hartes Leben erträglich machen, aber auch Tür und Tor öffnen zu Selbstbetrug und Selbstüberschätzung. Insbesondere gilt das für eine in einer einzigen Einstellung gedrehten Szene, in der es die Hauptfigur, der gerne mal überhebliche Kunstlehrer Samet, dem einfach nicht der Absprung gelingen will aus einer abgelegenen Gemeinde in Anatolien, in die er zur Ableistung seines Zivildienstes vor Jahren geschickt wurde, geschafft hat, endlich einmal einen Abend allein mit der attraktiven und klugen Nuray, eine Lehrerin aus einem Nachbardorf, die bei einem Terroranschlag ein Bein verloren hat, zu verbringen. Über Lebensentwürfe reden sie und Ideen, die eigentlich unvereinbar scheinen. Doch je mehr sie sich in Rage reden, desto größer wird die erotische Spannung, die sich jedoch nicht entladen will. 

Überhaupt ist alles immer nur Hochspannung, aufgestaute Energie, Frustration. Samet ist unentwegt gereizt, immer bereit, seine Umwelt, seien es seine Schüler, Kollegen oder Dorfbewohner, spüren zu lassen, dass er sich ihnen überlegen fühlt, was natürlich Augenwischerei ist: Wie toll kann einer schon sein, der seit vier Jahren auf der Stelle tritt? Samtweich wird er nur, wenn seine Lieblingsschülerin seinen Weg kreuzt, die hübsche Sevim. Für sie hat er immer ein Lob übrig, eine gönnerhafte Geste, vielleicht auch eine zarte Berührung. Mehr als statthaft ist jedenfalls, auch wenn Samet das selbst niemals so sehen würde. Und deshalb aus allen Wolken fällt, als eine anonyme Beschwerde bei der Behörde eingeht und er der Übergriffigkeit beschuldigt wird. Dabei geht es Ceylan nur darum, am eisernen Selbstverständnis der Patriarchats zu feilen, Steinchen für Steinchen, Stück um Stück. 

Weshalb dann nicht Samet der Held der Geschichte wird, auch nicht sein umgänglicherer Zimmergenosse Kenan, sondern eben Nuray: Ihre Darstellerin, Merve Dizdar, wurde nicht von ungefähr der Darstellerinnenpreis des 76. Festival de Cannes zugesprochen. Oder sind es womöglich die einfachen Leute, die Samet in seiner Freizeit als Hobbyfotograf festhält, die Bauern und Hirten, die Soldaten und Arbeiterinnen, weil sie einen Stolz verkörpern können, den die intellektuelle Elite nicht mehr besitzt. Weil doch alles nur ein Spiel ist, wie Nuri Bilge Ceylan in einer Szene verdeutlicht, in der er die vierte Mauer durchbricht und seine Schauspieler das Filmset verlassen lässt. Das ist Kino: Alles Betrug, alles nur behauptet. Und „Auf trockenen Gräsern“ einen trockenen Humor erkennen lässt, den man nicht erwartet hätte von einem Ceylan-Film, der seine kleinen Lügen hinter einer ganz großen Wahrheit versteckt.

Thomas Schultze