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REVIEW KINO: „Architecton“

Imposanter Dokumentarfilm von „Gunda“-Macher Victor Kossakovsky über den Menschen und seine Beziehung zu Steinen, Beton und Architektur.

CREDITS:
Land / Jahr: Deutschland / Frankreich 2024; Laufzeit: 94 Minuten; Regie & Drehbuch: Victor Kossakovsky; Besetzung: Michele De Lucchi; Verleih: Neue Visionen; Start: 3. Oktober 2024

REVIEW:
Wie klein wird doch sind, wie vergänglich und unbedeutend. Das ist sozusagen in Stein gehauen in dem neuen Dokumentarfilm des russischen Filmemachers Victor Kossakovsky, der 2020 in der Encounters-Nebensektion der Berlinale mit „Gunda“ einen großen Aufschlag hatte und mit seinem Folgewerk erstmals im Wettbewerb seinen Platz fand. In unablässigen Bilderkaskaden, festgehalten von einer frei fliegenden Kamera, hält er eine Art parallele Geschichte der Menschheit fest, erzählt in einem kolossalen Essay, das sich um Steine dreht, um Beton, um Architektur, was wir errichten und bauen. Und was davon übrig bleibt, Schutt und Asche. Es ist ein Film, der nach Schönheit strebt, nach der Ewigkeit, wie sie auch in ambitionierter Architektur angestrebt wird. Wir sind, wie wir leben. Wir sind, was wir bauen. Und was wir zerstören.

„Architecton“ von Victor Kossakovsky (Credit: Neue Visionen)

Das macht die Ouvertüre deutlich, in der Kossakovsky seine Kamera in einer Rückwärtsbewegung zu mächtig dröhnender Musik über zerbombte Häuser in der Ukraine streifen lässt, ein Dokumentarfilmemacher, der bei der Produktion schlagartig mit einer ganz handfesten Realität konfrontiert wird, die alle Thesen seines Films in einer erschütternden Weise unterstreicht. Ein Banner an einem der Häuser liest: Putin raus aus der UNO. Klare, aktuelle Ansage in einem der Film, der eigentlich in anderen zeitlichen Zyklen denkt, generellere Gedanken sich macht über die Zusammenhänge, in denen wir Menschen uns bewegen auf der Erde. Und verdammt winzig aussehen, wenn „Architecton“ die Menschen zeigt neben Bauten und Felsen, wenn er in einer unheimlich beeindruckenden Sequenz Erdrutsche zeigt, gerade auf der großen Leinwand eine bleibende Erfahrung, die Kossakovsky ganz nah heranrückt an „Koyaanisquatsi“ von Godfrey Regio, der auch keine Geschichte erzählen musste, um doch alles zu sagen, was ihm am Herzen lag. 

Ab 3. Oktober in den deutschen Kinos: „Architecton“ (Credit: Neue Visionen Filmverleih)

„Architecton“ ist eine instinktive, eine assoziative, eine intellektuelle Erfahrung, wenngleich bisweilen brachial in der Wahl der Mittel, als würde man es nur verstehen, wenn alle Himmelschoräle den Refrain singen. Alsbald rückt der italienische Architekt Michele De Lucchi in den Mittelpunkt des Interesses, ein Idealist seiner Zunft, eine Stimme der Vernunft. Er gibt sich wenig Illusionen hin, was den Gang der Menschheit anbetrifft, wenn er betrachtet, wie wenig Architektur heute ihre Möglichkeiten ausschöpft, etwas zu erschaffen, was von Wert ist und nicht nur rein praktischen Zwecken folgt, ex und hopp, birth school work death. In seinem Garten errichtet er einen magischen Kreis aus Steinen, den im Anschluss kein Mensch mehr betreten darf. Dass De Lucchi damit auch Sprachrohr des Filmemachers ist, unterstreicht Kossakovsky, indem er am Schluss selbst vor die Kamera und in den Dialog mit dem Architekten tritt. Verzweifelte Zeiten verlangen nach verzweifelten Maßnahmen. Auch im Dokumentarfilm.

Thomas Schultze