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REVIEW FESTIVAL: „Der Spatz im Kamin“

Gnadenloses Drama über eine Familienfeier, in der sich zwei Schwestern im Haus ihrer verstorbenen Mutter in vereinter Abneigung zueinander wiedertreffen.

Maren Eggert in „Der Spatz im Kamin” (Credit: Zürcher Film)

CREDITS: 
Land / Jahr: Schweiz 2024; Laufzeit: 117 Minuten; Drehbuch, Schnitt & Regie: Ramon Zürcher; Besetzung: Maren Eggert, Britta Hammelstein, Luise Heyer, Andreas Döhler, Lea Zoe Voss, Milian Zerzawy, Ilja Bultmann, Paula Schindler, Luana Greco; Weltpremiere: 77. Locarno Film Festival

REVIEW: 
Familienfest auf dem Land. Das Haus wird immer voller. Das Bild immer dichter. Und obwohl gar nichts passiert, wird die Spannung größer, greifbar, weil sich die Menschen gegenseitig den Raum nehmen. Aggression liegt in der Luft. Draußen schlachtet der Nachbar ein Huhn und wirf das verendende Tier in die Luft, lässt es wegflattern, vor den Augen eines der Kinder. Das ist die Ausgangssituation des neuen Films von Ramon Zürcher, produziert von seinem Bruder seine dritte Spielfilmarbeit nach „Das merkwürdige Kätzchen“ und „Das Mädchen und die Spinne“. Das idyllische Haus auf dem Land, die Menschen, die sich versammeln. Das ist eine Kulisse wie aus einem Film von Eric Rohmer. Oder einem Film von Olivier Assayas, wenn er Rohmer emuliert. Aber eben doch anders, ein Szenario, das sich unmerklich verdichtet, ein Gewitter heraufziehen lässt, das auf Entladung harrt. Das Licht ist in diesem Film draußen. Drinnen ist es, als würde ein Schatten auf den Figuren liegen.

Die Menschen in diesem Film gehen grausam miteinander um. Sie lassen einander spüren, wenn sie sich nicht mögen oder Vorbehalte haben. Sie spielen miteinander und kämpfen um ihre Position im Gefüge. Argwöhnisch beobachten sie einander, mal offenkundig, mal verdeckt. Nichts bleibt geheim. Im Mittelpunkt steht Karen, gespielt von Angela-Schanelec-Heroin Maren Eggert, die mit ihrem Mann Markus in das Haus ihrer Kindheit gezogen ist. Markus hat Geburtstag. Die Familie von Karens Schwester Jule, gespielt von Britta Hammelstein, wird erwartet. Ein Tornado aus Mikroaggressionen und Sticheleien, aus offenen Konfrontationen und Feindseligkeiten wartet. Gewalt liegt in der Luft, hin und wieder bricht sie aus. Die Erinnerung an die lange verstorbene Mutter macht beiden Schwestern zu schaffen. „Du bist ein Monster“, sagt die eine zu der anderen, als sie verrät, sie habe sich gefreut, als die Mutter gestorben war. „Nein, du bist das Monster“, antwortet die andere. Liebe ist hier ein Wort, das als Waffe eingesetzt wird. 

Das Szenario entwickelt eine Sogkraft, obwohl nichts forciert ist, einfach nur eine Abfolge von Beobachtungen, meist in statischen Einstellungen, die sich aufzutürmen scheinen. Als Zuschauer hat man es nicht leicht, weil Zürcher einem keinen Halt gewährt: Der Film kennt keine Gnade, kennt keine Identifikationsfigur. Nicht Karen, die sich in die innere Emigration zurückgezogen hat, still leidet, nicht Jule, die immer weiter stichelt, nicht die Nachbarin Liv, gespielt von Luise Heyer, die eine Affäre mit Markus hat, nicht Karens fast erwachsene Tochter Johanna, die ihre Reize einsetzt, um mit anderen zu spielen. Die Männer sind allesamt Lullis. Alle leiden. Alle hassen einander. Alle tun einander weh. „Alles geht kaputt“, sagt eine Figur. Ein Klavierstück eskaliert in Dissonanzen. Später peitscht ein 80s-Synthie-Score die Dinge auf, als sei John Carpenter zurück. Die Dinge verschieben sich. Und Maren Eggert blickt in die Kamera wie einst Ingrid Thulin in „Winterlicht“. Games people play. Gewonnen hat, wem es gelingt, sein Gesicht zu bewahren. Am Anfang wird ein Spatz im Kamin gefangen. Er wird befreit und kann davonfliegen. Immerhin einer. So viel Glück haben die menschlichen Figuren nicht in dieser Sinfonie der gelebten Unmenschlichkeit zueinander. 

Thomas Schultze