Login

REVIEW CANNES: „Beating Hearts“

Epische Liebesgeschichte über ein Mädchen aus gutem Haus, das sich wider besseren Wissens in einen jungen Schläger verliebt – und die beiden nicht voneinander lassen können.

Gilles Lellouches „Wildes Leben“ (Credit: Trésor Films / Chi-Fou-Mi Productions / Studiocanal / Cédric Bertrand)

CREDITS:
O-Titel: L’amour ouf; Land / Jahr: Frankreich 2024; Laufzeit: 168 Minuten; Regie: Gilles Lellouche; Drehbuch: Gilles Lellouche, Ahmed Hamidi, Audrey Diwan; Besetzung: Adèle Exarchopoulos, François Civil, Mallory Wanecque, Malik Frikah, Benoît Poelvoorde, Élodie Bouchez; Verleih: Studiocanal

REVIEW:
Sie verabscheue Gewalt, sagt Adèle Exarchopoulos sehr spät im Verlauf von „Beating Hearts“. Sie sagt es mit Nachdruck. Man wünschte nur, der Film würde ihre Ansicht uneingeschränkt teilen. Denn obwohl die neue Regiearbeit des Schauspielers Gilles Lellouche eigentlich mit epischem Anstrich eine Geschichte erzählen will, in der die Liebe schließlich über Aggression triumphiert, wild im Herzen, sind die ausufernden Gewaltszenen so zahlreich und so dominant, dass zumindest an der Konzeption Zweifel geäußert werden darf: Gewalt auf dem Schulhof, Gewalt in Familien, Gewalt in Gangs, Gewalt bei Überfällen, Gewalt in der Ehe, in allen Lebenslagen. Erdrückt will man sich fühlen von dieser Urgewalt an Gewalt, die da über den Zuschauer hereinbricht und regelrecht in den Kinosessel presst, die Luft zum Atmen nimmt. Dabei nimmt der Film, eine lose Adaption des Romans „Jackie Loves Johnser OK?“ von Neville Thompson aus dem Jahr 1997, den Lellouche mit Ahmed Hamidi und Audrey Diwan von Irland nach Frankreich transferierte, immer dann besonders Fahrt auf, wenn er die Liebe zeigt, der die beiden Hauptfiguren, die brave Schülerin Jacqueline und der Schläger aus einfachen Verhältnissen, Clotaire, sich einfach nicht verweigern können. 

Wenn man an nichts glaubt, könne man nicht enttäuscht werden, gibt Clotaires Vater, ein Fabrikarbeiter, seinem kleinen Sohn Clotaire mit auf den Weg, der schon als kleiner Junge mit einer kurzen Leitung und einem schweren Mangel an Aggressionskontrolle eine Handvoll ist. Als sich Clotaire und Jacqueline, die gerade als neue Schülerin aus dem Schulbus steigt, erstmals sehen, ist das wie in einem der alten Songs der Four Seasons: „Dawn, go away, I’m no good for you!“. Man sieht die Funken fliegen. Und man weiß, dass nichts Gutes dabei herauskommen kann. Wenn Gilles Lellouche zeigt, wie die beiden Teenager in den Achtzigerjahren förmlich in Flammen stehen, wenn sie sich sehen, greift „Beating Hearts“ förmlich nach den Sternen, dem filmischen Olymp. Begleitet von klug ausgewählten Songs der Ära von The Cure, Billy Idol und Prince, gelingen erhebende Bilder erster Liebe und der Film hebt ab: Als Jackie, wie Clotaire sie getauft hat, ein Name, den sie nie wieder ablegen wird, ihm vor dem ersten Kuss im Weizenfeld den roten Kaugummi aus dem Mund nimmt, behält sie ihn und klebt ihn daheim neben ihrem Bett an die Wand. Die Kamera fährt an ihn heran und man sieht ihn wie ein Herz pochen. 

Man wird dann aber doch immer auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, weil auch Clotaires Weg vorgezeichnet ist, er sich mit lokalen Gangstern einlässt und schließlich bei einem gescheiterten Überfall auf einen Geldtransport als Sündenbock vorgeschoben wird, weil der Sohn des Chefgangsters die Nerven verliert und einen der Polizisten ermordet. Zehn Jahre muss Clotaire ins Gefängnis. Das ist die Hälfte des 168 Minuten langen Films. Als der Junge als junger Mann, jetzt gespielt von François Civil, wieder in Freiheit kommt, beginnt die Spirale der Gewalt aufs Neue, während Jackie, einst eine so vielversprechende Schülerin, jetzt gespielt von Adèle Exarchopoulos, erst gefangen war in tristen Jobs und dann geheiratet hat, eine solide und eigentlich glückliche Ehe führt, wenn da nicht die Erinnerung wäre an die Zeit mit Clotaire, die sie nicht vergessen kann. Die Abwärtsspirale ist eigentlich vorgezeichnet, denn so hatte der Film begonnen: Jackie hatte versucht, Clotaire anzurufen. Er ignorierte den Anruf, weil er die Ermordung des besten Freundes rächen wollte und dabei selbst in der eskalierenden Situation in den Kopf geschossen wird. Nun kommt der Film wieder an dieser Stelle an, und es muss sich zeigen, wie Lellouche die Sache deichseln wird, ob die Liebe, die hier stets das Nachsehen hatte, nicht doch eine Himmelsmacht ist. Oder wie Prince singt: „Nothing compares 2 you!“.

Thomas Schultze