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REVIEW CANNES: „The Shrouds“

Bittere Zukunftsvision über eine Welt, in der die Lebenden eine Verbindung mit den Toten herstellen können.

David Cronenbergs „The Shrouds“ (Credit: Festival de Cannes)

CREDITS:
Land / Jahr: Kanada 2024; Laufzeit: 116 Minuten; Regie, Drehbuch: David Cronenberg; Besetzung: Vincent Cassel, Diane Kruger, Sandrine Holt, Guy Pearce

PREVIEW:
How dark are you willing to go? Als Vincent Cassel genau diese Frage stellt in „The Shrouds“, ziemlich zu Beginn des Films in einer einführenden Szene, in der sich die Hauptfigur Karsh mit einer attraktiven Frau zum Lunch trifft in seinem Restaurant The Shrouds, mit Blick auf einen pittoresken Friedhof vor den Toren Torontos, zwinkert der Film dem Zuschauer verschwörerisch zu. Weil man nicht erst seit gestern weiß, dass David Cronenberg in seinen Filmen dahin geht, wo es düster ist: In seinem Werk lotet der Kanadier seit jeher die Abgründe der menschlichen Existenz aus, da wo Körper, Sex, Obsession und Tod in enger Verschränkung aufeinandertreffen und ineinander verschmelzen – zuletzt in seinem Comebackfilm nach neunjähriger Pause, „Crimes of the Future“, der vor zwei Jahren in Cannes im Wettbewerb lief. Um Verbrechen der Zukunft geht es auch jetzt, doch diesmal ist es persönlich, unverkennbar, verschwimmen auf verspielte und kluge Weise die Grenzen zwischen Cronenbergs Privatleben und der Handlung seines Films.

Das beginnt schon mit der Fotoauswahl, die der Presse in Cannes zur Verfügung gestellt wird. Neben einem neuen Porträt des Regisseurs findet man ein einzige Szenenfoto mit Vincent Cassel und Diane Kruger (siehe oben), auf dem Cassel verblüffend genauso aussieht wie der Mann, der ihn inszeniert hat: die gleichen grauen Haare, die gleiche Frisur, das gleiche hagere Gesicht. Dieser Karsh ist also eine fiktive Hauptfigur und ein Wiedergänger von David Cronenberg, der kein Hehl daraus gemacht hat, mit „The Shrouds“ (also „Die Leichentücher“) seine eigene Trauer über den Krebstod seiner Frau Carolyn, mit der er 43 Jahre lang verheiratet war, zu verarbeiten. „Die Trauer lässt deine Zähne verrotten“, sagt Karshs Zahnarzt bei einer Zahnreinigung. Und nimmt ein bisschen morbide auch gleich die Prämisse des Films vorweg. 

Mit seiner Firma GraveTech hat Karsh an der vorderen Front der technologischen Möglichkeiten eine App entwickelt, die Angehörige unmittelbar am Verwesungsprozess ihrer verstorbenen Familienmitglieder teilhaben lässt. Die Leichen werden in spezielle mit Kamerasonden durchsetzte Leichentücher gehüllt, die nach ihrer Beisetzung Bilder aus dem Grab liefern. Und weil das zwar eine faszinierende Idee ist, wie sie wohl nur von David Cronenberg kommen kann, der in seinem Body-Horror – Hail the new flesh! – immer wieder die Möglichkeiten einer potenziellen Verschmelzung von Körper und Technologie thematisiert, ergibt das noch keinen Film, sondern nur eine Prämisse: Karsh selbst ist nicht über den Tod seiner Frau hinweggekommen, er selbst hält weiter Kontakt zu ihr auf seinem High-Tech-Friedhof, der alsbald ein Geschäftsmodell, ein weltweites Franchise werden soll – neue Locations in Reykjavik und Budapest sind geplant. 

Dann werden in der Nacht neun der Gräber geschändet, verwüstet, die Grabsteine umgeworfen. Die Website wird gehackt, die App ist nicht mehr zugänglich. Nun kann man sich unschwer vorstellen, dass die Schändung von jüdischen Gräbern in Kanada der unmittelbare Auslöser für diesen Plotpunkt war. Cronenberg spinnt daraus aber einen verrückten kosmopolitischen Thriller, der eine Verschwörungstheorie nach der anderen aufeinandertürmt: Russland! China! KI! Klimawandel! Alles spielt eine Rolle und gehört womöglich irgendwie zueinander und ist so kompliziert und aberwitzig erzählt mit neuen Informationen und Entwicklungen und Wendungen von einer Szene zur nächsten, dass Cronenberg allzu deutlich macht, dass ihm die einzelnen Verschwörungen einerlei sind, ihn vielmehr die Verschwörungstheorie als solche interessiert, wie sie Menschen paranoide machen, ihre Existenz nach und nach verschlingen, sie wie Leichentücher umhüllen. 

Die Zwillingsschwester von Karshs Frau, gespielt von Diane Kruger, wird sexuell angeturnt, wenn man ihr von Verschwörungen erzählt, ähnlich wie die Figuren von „Crash“ sich durch Autounfälle sexuell stimuliert fühlten. Ihr Ex-Mann, der für Karsh die App programmiert hatte, gespielt von Guy Pearce, wiederum verliert sich in seinem eigenen Verfolgungswahn. Und Karsh selbst wird nachts von einer Vision seiner verstorbenen Frau, mit einer roten Narbe da, wo einst ihre linke Brust war, und amputiertem Arm, heimgesucht: Die Toten sind unter uns. Und dann sind da die leisen und stillen Momente, in denen Karsh von seiner Erinnerung an seine Frau spricht. Da spricht David Cronenberg ganz direkt zu uns. Das sind Gänsehautmomente, die bei uns bleiben, wenn man den Rest des ausufernden Plots längst vergessen hat. Wie von dem Filmemacher beabsichtigt: Es ist das Leichentuch, das bleibt. 

Thomas Schultze