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REVIEW CANNES: „The Seed of the Sacred Fig“

Bestechend zwingendes Drama um die Familie eines iranischen Staatsbeamten, die durch die Proteste im September 2022 in ihren Grundfesten erschüttert wird.

Mohammad Rasulofs „The Seed of the Sacred Fig“ (Credit: Festival de Cannes)


CREDITS:
Land / Jahr: Deutschland, Frankreich, Iran 2024; Laufzeit: 168 Minuten; Regie, Drehbuch: Mohammad Rasulof

REVIEW: 
Acht Patronen werden auf einen Tisch gelegt. Der Mann zeichnet gegen und hat jetzt eine Pistole, zum ersten Mal in seinem Leben. Wer eine Pistole zeigt, der muss sie benutzen, besagt eine eherne Regel. So viel sei gesagt: Sie wird zumindest eine Rolle spielen. Ob sie abgefeuert wird, muss jeder für sich entdecken. Während ich diese Besprechung schreibe, tobt gerade noch immer der Salle Lumière, mittlerweile seit gut einer Viertelstunde, und feiert Mohammad Rasulof, der den radikalsten, zornigsten Film in Iran gedreht hat, den man sich denken kann. Und der wusste, dass er das Land würde verlassen müssen, bevor er das Licht der Welt erblickt. Denn wenn jemals ein Film ein Sprengsatz war, dann dieser mächtige Hieb gegen das Unrechtsystem Iran, in dem nicht um den heißen Brei herumgeredet wird, in dem keine wohlfeilen Metaphern herhalten müssen, sondern der zeigt, was Sache ist. Ein Film, der nicht aktueller sein könnte und gleichzeitig sofort ein Klassiker ist, ein Meisterwerk – ob er nun die Goldene Palme kriegt oder nicht (und wie könnte er es nicht?).

Beflügelt von den Protesten in Teheran und dem Rest des Landes, beginnend im September 2022, hervorgerufen durch den durch Polizeigewalt herbeigeführten Tod der kurdischstämmigen Iranerin Jina Mahsa Amini in der Hauptstadt, legt Mohammad Rasulof die Karten auf den Tisch, dreht einen Film, der Familiendrama, politischer Thriller, „1984“ und der ultimative Paranoiatrip ist. Er erzählt von einem zum Staatsanwalt beförderten Staatsdiener, Iman, der kurz vor seinem Ziel steht, Richter zu werden, ein paar Schritte noch. Deshalb hat er eine Waffe erhalten, zum Selbstschutz. Erstmals weiht er seine Familie ein, seine treue Ehefrau und die beiden Töchter, 20 Jahre die eine, jugendlich die andere. Und von da an nimmt die Geschichte ihren Lauf: Während er innerlich mit sich ringen muss, nur dann im System weiterzukommen, wenn er das Spiel mitspielt, auch Unschuldige anklagt und ihr Schicksal besiegelt, erleben die Mädchen die Aufstände mit und werden involviert, als eine Freundin eine Ladung Schrot ins Gesicht bekommt und in die Wohnung der Familie gebracht wird, wo die Mutter sie versorgt. 

Daraus entsteht binnen kürzester Zeit ein Albtraum, in dem die Familie sich gegen sich selbst zu wenden beginnt, eine Front zwischen den Töchtern und ihrem Vater aufgebaut wird, die Mutter vermittelnd dazwischen. Als dann auch noch die Waffe von Iman spurlos verschwindet, die er abends immer in einer Schublade im Schlafzimmer verwahrt, und auf einmal damit konfrontiert wird, ins Gefängnis zu kommen und alles zu verlieren, eskaliert der Film, der so leidenschaftlich und wütend ist, aber immer auch bedächtig und klug. Der vor allem immer auch ein außerordentlich begnadeter Film ist, von der ersten bis zur letzten Minute fesselt. Und eine Reihe von letzten Bildern bereithält, die ihren Platz in der Geschichte des Kinos sicher haben. Weil sie unterstreichen, was die Sage vom Samen des Feigenbaums besagt, der sich erst sanft auf den Wirtsbaum legt, dann Sprossen trägt, dem Wirtsbaum die Luft zum Leben nimmt und dann ersetzt. Es ist nur eine Frage der Zeit. 

Thomas Schultze