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REVIEW CANNES: „Grand Tour“

Ebenso ungewöhnliche wie faszinierende Abenteuergeschichte über einen Briten, der 1918 durch ganz Asien vor seiner aus London angereisten Verlobten flieht.

Miguel Gomes’ „Grand Tour“ (Credit: Festival de Cannes)

CREDITS:
Land / Jahr: Portugal, Deutschland 2024; Laufzeit: 128 Minuten; Regie: Miguel Gomes; Drehbuch: Miguel Gomes, Maureen Fazendeiro, Mariana Ricardo, Telmo Churro; Besetzung: Gonçalo Waddington, Crista Alfaiate, Cláudio da Silva, Lang Khê Tran

REVIEW:
In seinem ersten Spielfilm seit seinem dreiteiligen „1001 Nächte“, der ihm 2015 in der Quinzaine den Durchbruch bescherte, erzählt der portugiesische Filmemacher Miguel Gomes ein länderumspannendes Epos, ohne sich jemals der Bilder eines Filmepos zu bedienen, eine Abenteuergeschichte mit zahlreichen lebensgefährlichen Situationen, ohne einzige Actionszene zu bemühen, eine Liebesgeschichte, ohne jemals auch nur einen Hauch romantisch zu sein. „Grand Tour“, mit dem Gomes erstmals im Wettbewerb von Cannes vertreten, ist ein anfangs nur schwer zu durchdringendes Filmessay, intellektuelles Kino, eine Kopfgeburt, die sich nur langsam öffnet und erschließt, aber mit zunehmender Laufzeit zugänglicher wird und schließlich auf eine Weise packt, wie man es diesem sperrigen, fordernden Filmexperiment zunächst nicht zugetraut hätte.

In zwei Teilen entfaltet sich das Narrativ. Zuerst geht es um den britischen Beamten Edward, der gerade von Burma nach Singapur kommt und erfährt, dass Molly Singleton, mit der erst sieben Jahren verlobt ist, sich auf den Weg zu ihm befindet, um endlich geehelicht zu werden. Eine überhastete Flucht für ihn durch Südostasien, Thailand, Vietnam, China, Japan, lässt ihn ein Zugunglück und einen Überfall in einem Bambusurwald überleben, immer bemüht darum, Molly auf Distanz zu wahren, bis sein Widerstand auf den letzten Etappen schwindet, ihn ihre Hartnäckigkeit anrührt und seine eigene Feigheit anwidert. Danach geht es zurück an den Anfang, jetzt liegt der Fokus auf der unablässigen Molly, die in Singapur ankommt und sofort die Verfolgung Edwards aufnimmt. Sie hat lange genug gewartet und wird ihn nicht entkommen lassen, ob sich ihr nun neue Verehrer in den Weg stellen oder ihre schwindende Gesundheit sie schwächt.

Ein verblüffender Film ist das, der auf der Tonspur immer die oben beschriebene Geschichte beschreibt, in der jeweiligen Landessprache eingesprochen, wie aus einem Roman der Ära vorgelesen. Die Bilder korrespondieren indes nur bedingt mit dem, was man hört. Der Ansatz ist essayistisch, eine kluge Montage aus dokumentarischen Momentaufnahmen aus der Gegenwart, die beim Dreh in Südostasien entstanden, der jeweiligen Folklore entsprechenden Liedern oder künstlerischen Darbietungen, oder inszeniertem Filmmaterial, das im Stil von Stummfilmen der Ära gehalten ist, in körnigem Schwarzweiß, während der eigentlich englische Dialog auf Portugiesisch gespielt wird. Desorientierung ist der ursprüngliche Effekt, bis man sich gewöhnt hat an den eigenwilligen künstlerischen Ansatz, der Film gerade im zweiten Teil ruhiger, weniger sprunghaft wird, auch wenn die Geschichte in diesem Strang an einem anderen Ende ankommt als im ersten Durchlauf. So wird aus „Grand Tour“ eben nicht nur das angestrebte romantische Abenteuer mit völlig anderen stilistischen Mitteln, eine Graham-Greene-Geschichte, die nicht weiter entfernt sein könnte von einem Graham-Greene-Roman, sondern auch eine Kritik, die eine ätzende Absage erteilt an jegliche Form von Kolonialismus im Allgemeinden und britische Hegemonie im Besonderen. 

Thomas Schultze