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REVIEW CANNES: „Emilia Perez“

Sensationelles Musical über einen mexikanischen Drogenboss, der nichts lieber wäre als eine Frau.

Jacques Audiards „Emilia Perez“ (Credit: Shanna Besson)

CREDITS:
Land/Jahr: Frankreich 2024; Laufzeit: 130 Minuten; Regie, Drehbuch: Jacques Audiard; Besetzung: Adriana Paz, Edgar Ramirez, Mark Ivanir, Zoé Saldana, Selena Gomez

REVIEW:
Wenn er nicht gerade eine Ausnahme macht wie 2018, als er seinen Western „The Brothers Sisters“ nach dem Gewinn der Goldenen Palme für „Dheepan – Dämonen und Wunder“ nach Venedig schickte, kann man die Uhr danach stellen, dass Jacques Audiard seine neuen Arbeiten im Drei-Jahres-Rhythmus in Cannes vorstellen wird, seit 2009 stets auch im Wettbewerb. Und man weiß jedes Mal, dass es etwas Besonderes sein wird, etwas Einzigartiges, etwas, das der 72-Jährige noch nicht davor gemacht hat. Der einzige rote Faden ist stets: Es wird KINO sein, es wird die Leinwand füllen mit souveränen, großen Bildern, es wird einen nicht unberührt lassen. 

Und diesmal, bei „Emilia Perez“, drei Jahre nach dem romantischen Schwarzweiß-Traum „Wo in Paris die Sonne aufgeht“, ist es noch mehr KINO, wird die Leinwand noch mehr gefüllt mit souveränen und großen Bildern, wird man nicht einfach nur berührt, sondern mitgerissen und begeistert von Audiard, der mit „Emilia Perez“ sein Meisterwerk abgeliefert hat, der eine Geschichte erzählt, die nur als KINO funktionieren kann, ein Musical, wie man es in dieser Form vielleicht noch nie gesehen hat, drei Jahre nach dem letzten Musical in Cannes, „Annette“ von Léos Carax, ebenso ambitioniert, aber nie entfremdend, sondern das Publikum umarmend, mitnehmend auf einen Ritt, von dem man nicht wusste, dass man ihn haben wollte, von dem man aber nicht genug bekommen kann. Kino, das man saufen will.

Worum es geht, wusste man. Im Groben. Und konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie das gehen soll, wie das funktionieren kann. Der Boss eines mächtigen Drogenkartells wusste immer schon, dass er nur im Körper eines Mannes lebt, tatsächlich aber eine Frau ist. Auf der Höhe seiner grenzenlosen Macht und unfassbaren Reichtums beauftragt Manitas die Anwältin Rita, in einer epochalen Darstellung gespielt von Zoe Saldaña, ihm bei der Erfüllung seines Traumes zu helfen, auch wenn das bedeutet, dass er seinen Tod vortäuschen muss und seine Frau und die beiden Kinder niemals wieder sehen kann. Dafür bereist sie die Welt, um den richtigen Chirurgen zu finden und die nötigen Vorbereitungen zu treffen, dass Manitas sterben und Emilia Perez geboren werden kann.

Man wundert sich noch, weil man im Vorspann liest, dass der Film von dem Modehaus Saint Laurent mitproduziert wurde, da wird man sofort überrollt von der ersten Szene, in der Jacques Audiard zeigt, wie er sich Musical, das filmischste aller Genres vorstellt. Wie er das Genre komplett neu denkt, die Songs immer nur in Ausschnitten unmittelbar in die Handlung geschnitten, eingängig und perkussiv, begleitet von dynamischen und modernen Choreographien, die immer nur die Handlung vorantreiben, die Stimmung unterstützen, ins Innere der Figuren blicken lassen. „Emilia Perez“ lasst keine Sekunde nach, wird erst dann richtig gut, wenn die Handlung vier Jahre nach der eigentlichen Prämisse einsetzt und man erstmals Emilia sieht, die Rita überredet, ihr ein weiteres Mal zu helfen, nun ihre Familie nach Mexiko zurückzubringen, zurück zu ihr, die sich als Tante ausgibt. 

Was danach passiert, muss man selbst entdecken. Man sollte nur verraten, dass die Emotionen hochkochen, sich auch die Musik weiter steigert, Audiard nach einem eigenen Drehbuch aber einen genialen Weg findet, nicht nur etwas über die unerträgliche Spirale der Gewalt zu erzählen, die Mexiko seit Jahrzehnten im Griff hat, sondern wie sich der Teufelskreis durchbrechen lassen könnte, wie man nach Wiedergutmachung sucht für ein Leben des Verbrechens und des Leids. Diese Momente der Erkenntnis sind Offenbarungen, Ausdruck eines überzeugten Humanismus, der sich durch das Oeuvre des Franzosen zieht und nicht zuletzt schon der Grund für die erste Goldene Palme gewesen war, die ihm 2015 von der Jury unter den Coen-Brüdern zugesprochen wurde, in einer Entscheidung, die nicht auf einhellige Begeisterung stieß. Sollte Jacques Audiard für „Emilia Perez“ seine zweite Goldene Palme erhalten – und bislang gibt es keinen Film, der sie ihm streitig machen könnte -, dann wird ihm begeisterter Beifall sicher sein. Wie gerade eben nach dem Ende der Pressevorführung, das alle Anwesenden in Erinnerung behalten werden als den Moment, an dem der Knoten platzte beim 77. Festival de Cannes. Weil man Zeuge von etwas Epochalem sein durfte, einem Augenblick, an dem sich das Kino wieder einmal erneuert hat.

Thomas Schultze