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Thomas Beranek: „Es mangelt nicht an Kinobegeisterung“

Er ist einer der Herren der Zahlen: Als Chefanalyst bei Gower Street hat Thomas Beranek das globale Kinogeschehen jederzeit im Blick. Wieso dieser auch in einem sehr herausfordernden Jahr positiv ausfällt, was hinter den Enttäuschungen im Superheldengenre steckt und was eine neuerliche Studiofusion für die Startlisten bedeuten könnte, erläutert er im Gespräch mit SPOT.

Thomas Beranke, Chefanalyst bei Gower Street (Credit: Die Hoffotografen GmbH Berlin/www.hoffotografen.de)

Kaum jemand hat die Entwicklung der globalen Kinomärkte so genau im Blick wie er: Thomas Beranek, Chefanalyst bei Gower Street Analytics, einem engen Partner von Comscore. Beranek beobachtet Trends, analysiert die Zahlen, ordnet sie ein. Und tut dies auch im aktuellen Marktumfeld mit einem ausgesprochen optimistischen Blick nach vorne, wie er im Interview mit SPOT ausführt.

Vielleicht eine ungewöhnliche Frage an einen Chefanalysten eines Unternehmens, auf dessen Prognosen die gesamte Branche blickt: Aber wie vorhersehbar ist Erfolg auf der großen Leinwand denn eigentlich überhaupt noch?

Thomas Beranek: Besser als je zuvor, würde ich sagen. Auch wenn leider immer noch keine verlässliche Glaskugel erfunden wurde, haben wir doch Zugriff auf eine nie dagewesene Menge an Datenpunkten. Das vereinfacht die Modellierung von Eintrittswahrscheinlichkeiten unterschiedlicher Kinoergebnisse und damit die Akkuratheit von Prognosen enorm. Bei Gower Street erstellen wir seit 2021 Jahresprognosen für den weltweiten Markt, die zwar im Zeitverlauf gegebenenfalls noch leichte Anpassungen erfahren, die aber bislang zum Ende des dritten Quartals jeweils auf dem Niveau des tatsächlichen globalen Jahresergebnisses ohne China lagen. Es ist keineswegs so, wie in dem berühmten William-Goldman-Zitat: „Nobody knows anything“. Man kann die Märkte und ihre Entwicklung schon ganz gut einschätzen. Natürlich gibt es immer mal wieder Phänomene wie etwa „Barbenheimer“, das seinen Katalysator vor allem in einem User-generierten Online-Buzz fand. Auf der anderen Seite verfängt sich mitunter vielleicht der USP eines Films nicht recht, weil er schwieriger zu kommunizieren ist als gedacht. Oder ein neues Werk fällt einfach qualitativ viel schlechter aus als angenommen. Das sind Dinge, die nur schwer vorherzusagen sind – und selbstverständlich fällt eine Einschätzung in der Regel umso schwerer, je weiter ein Start in der Ferne liegt. Aber das war schon immer so. Grundsätzlich basieren unsere Prognosen natürlich auf den Filmen, die zum jeweiligen Zeitpunkt im Releasekalender stehen. Dementsprechend erfolgt eine Anpassung in dem Maße, in dem sich Startlisten ändern. Das ist in so volatilen Zeiten, wie wir sie zuletzt dank der Pandemie und der Streiks erlebt haben, ein durchaus komplexer Faktor. Generell gesprochen, unterliegen Voraussagen für einzelne Filme aber immer größeren Schwankungen als jene für ganze Märkte. Unter dem Strich kann man sagen, dass sich die Akkuratheit von Prognosen mit Zunahme der verfügbaren Datenpunkte erheblich verbessert hat.

Der Kinosommer in den USA kam mit weniger Schwung als gehofft aus den Startblöcken. Hand aufs Herz: Hatten Sie „Fall Guy“ dort mehr zugetraut?

Thomas Beranek: Tatsächlich lag unsere US-Prognose für diesen Film noch vor etwa einem Jahr bei einem Gesamtergebnis in der Range von etwa 80 Mio. Dollar – wo er nach wie vor landen kann. Ehrlicherweise hatte man ihm zwischenzeitlich aber doch etwas mehr zugetraut, nicht zuletzt dank der sehr guten Kritiken und einer enorm engagierten Werbekampagne inklusive großer Premieren in mehreren Märkten. Am Ende überwogen dann offenbar die herausfordernden Aspekte: Filme über die Filmindustrie haben meistens Probleme, Zuschauer in der Breite ins Kino zu locken (Wir denken da tatsächlich an Werke von „Last Action Hero“ bis „Babylon“; Anm.d.Red.) – und die disparaten Zielgruppen von Actionfilmen und romantischen Komödien zu verbinden, ist keine einfache Aufgabe. Nicht zuletzt haben die vorausgegangenen, programmatisch recht leeren Wochen nicht unbedingt geholfen, die Aufmerksamkeit für diesen Start zu erhöhen. Die Bewerbung im Kino selbst ist auch in den USA von herausragender Bedeutung. Am Ende hatte sich angedeutet, dass der Buzz etwas geringer war, als man es sich noch ein paar Monate vor Release gewünscht hatte; letztlich verlief das Startwochenende sicherlich am untersten Ende der Erwartungen. Immerhin deuteten die beiden Folgewochenenden darauf hin, dass es positive Mundpropaganda gab und sich „Fall Guy“ zumindest etwas weiter tragen wird, als es das enttäuschende Startwochenende andeutete.

„Die große Chance für eine Aufholjagd sehen wir nach wie vor im vierten Quartal“

Thomas Beranek

Erst vor gut einem Monat hatte Gower Street seine globale Jahresprognose zumindest minimal nach oben angepasst. Hat dieser etwas positivere Ausblick nach den mauen April-Ergebnissen noch Bestand?

Thomas Beranek: Dass der April ein ausgesprochen schwacher Monat wurde, kam nicht unerwartet. Angesichts der Startlisten, die wenige große Titel aufwiesen, war unsere Prognose von vorneherein sehr moderat ausgefallen. Das globale Gesamtergebnis von rund 1,9 Mrd. Dollar lag dementsprechend innerhalb des Erwartungshorizonts, wenn auch zugegebenermaßen am unteren Ende. In den kommenden Monaten wird es aufwärts gehen, auch wenn es nicht zwangsläufig reichen wird, um die Ergebnisse des starken zweiten und vor allem dritten Quartals des Vorjahres zu wiederholen. Die große Chance für eine Aufholjagd sehen wir nach wie vor im vierten Quartal, von dem zu erwarten ist, dass es deutlich stärker wird als die Vergleichszeiträume der beiden Vorjahre. Insgesamt bleiben wir zuversichtlich, dass die 32,3 Mrd. Dollar, die wir zuletzt als globales Jahresgesamtergebnis vorhergesagt haben, weiterhin erreichbar sind. Das wären nach vergleichbaren Währungskursen nur etwa drei Prozent weniger als 2023. Und vor dem Hintergrund eines halbjährigen Ausstands der Kreativen und der damit verbundenen Produktionseinschränkungen könnte man das als echten Erfolg werten.

Nun gilt 2024 auch unter deutschen Kinobetreibern gerne als „Durchhaltejahr“ – gegenüber den USA steht der hiesige Markt aber ungleich besser da, wenn es um den Abstand zum vorpandemischen Ergebnis geht. Wie viel Sorgen muss man sich um den Kinomarkt jenseits des Atlantiks machen?

Thomas Beranek: Man muss sich um den nordamerikanischen Markt nicht mehr oder weniger Gedanken machen, als um die gesamte globale Kinobranche. Die Besonderheit der USA und Kanada – im Prinzip auch jene der anderen angloamerikanischen Märkte, darunter nicht zuletzt UK – ist, dass Filme abseits der großen Hollywood-Produktionen dort traditionell einen vergleichsweise geringen, teils geradezu marginalen, Marktanteil haben. Das hat sich zuletzt in gleich mehrfachem Sinne negativ ausgewirkt. Schon durch die Pandemie kam die Produktion zeitweise quasi zum Erliegen, dementsprechend reduziert war die Release-Pipeline. In vielen Märkten, in denen man die kritische Pandemie-Phase früher hinter sich ließ, konnte auch die Produktion wieder schneller anlaufen, dort stand dann auch schneller wieder mehr Content für die Kinos zur Verfügung. Das lässt sich in den entsprechenden Märkten auch an den überdurchschnittlich hohen Marktanteilen lokaler Produktionen in den entsprechenden Jahren ablesen. Gleichzeitig haben wir mehrfach gesehen, dass große Hollywood-Filme zwar im Prinzip fertig waren, man aufgrund der globalen Auswertungsstrategie aber mit einem Start abwarten musste, bis weltweit wieder eine kritische Zahl an Märkten offen war. Nun hätte man davon ausgehen dürfen, dass diese Faktoren 2023 keine Rolle mehr spielen würden – aber dann kamen die Streiks und mit ihnen ein erneuter, monatelanger Produktionsstopp, der diesmal fast ausschließlich Hollywood-Produktionen betraf. Das hat die angloamerikanischen Märkte gegenüber jenen Territorien, in denen die lokalen bzw. die internationalen Filme jenseits der US-Produktion eine signifikante Rolle spielen, natürlich umso stärker zurückgeworfen. Gegen Ende dieses Jahres und vor allem dann 2025, wenn sich die Versorgungslücke schließt, wird auch wieder eine größere Synchronisierung der Ergebnisse stattfinden.

Beschönigt der reine Blick auf das Boxoffice angesichts massiv gestiegener Produktions- und Marketingkosten die Situation nicht sogar noch?

Thomas Beranek: Der reine Blick auf das Boxoffice war schon immer verengt. Das ist nur eine von mehreren Kennziffern, die man zur Beurteilung von Entwicklungen heranziehen muss. Dennoch ist der Ticketumsatz eine ganz wesentliche Kennziffer, die im globalen Kontext für die meisten Menschen leicht verständlich ist. Zudem ist gerade der angloamerikanische Markt in seiner Betrachtung sehr Boxoffice-getrieben – woraus sich eine „globale Währung“ der Kinobranche ableitet. Nichtsdestotrotz werden in vielen internationalen Märkten, insbesondere in Europa und Lateinamerika, die Besuche mindestens im selben Umfang als Kennziffer zur Erfolgsbeurteilung herangezogen. Aber ohne entsprechende Kontextualisierung ist auch dieser Maßstab nur unzureichend, um Erfolg und Marktentwicklung zu beschreiben.

„Es wurde viel experimentiert, man hat viele Erkenntnisse gewonnen. Und die Haupterkenntnis ist: Das Kinofenster hat Relevanz.“

Thomas Beranek

Wie viel mittelfristige Zukunft haben Produktionsbudgets um die 300 Mio. Dollar (und mehr) im aktuellen Klima Ihrer Ansicht nach – insbesondere vor dem Hintergrund etlicher sehr hoch budgetierter Enttäuschungen der letzten Jahre?

Thomas Beranek: Der Geist ist diesbezüglich aus der Flasche. Solange es Filme gibt, die versprechen, weltweit mehr als eine Milliarde Dollar in den Kinos einzuspielen, wird es solche Budgets auch geben. Natürlich werden derartige Größenordnungen nur bei ausgewählten Filmen aufgerufen werden, aber das gehört zum Geschäft. Studios sind schon immer Risiken eingegangen – und müssen es in gewissem Maße auch, um neue, große Ereignisse zu schaffen. Wo man viel gewinnen kann, kann man auch viel verlieren. It’s all part of the game.

Im Zuge der Pandemie sind die Auswertungsfenster teils drastisch geschrumpft und haben – wenngleich die Tendenz diesbezüglich zuletzt eher positiv war – die vorherige Länge nicht wieder erreicht. Hatte dies nach ihren Berechnungen Auswirkungen auf die „Langlebigkeit“ von Filmen auf der Leinwand? Sprich: Ist der Multiplikator, der sich aus Startumsatz und Gesamtergebnis errechnet, im Schnitt spürbar gesunken?

Thomas Beranek: Wir haben nach der Pandemie diesbezüglich noch keine tieferen, spezifischen Forschungsergebnisse, auch weil die Situation noch im Fluss ist. Festhalten kann man selbstverständlich, dass die Auswertungsfenster während der Pandemie signifikant zurückgefahren wurden – teils bis hin zu dem Punkt, an dem sie nicht mehr existierten. Es wurde viel experimentiert, man hat viele Erkenntnisse gewonnen. Und die Haupterkenntnis ist: Das Kinofenster hat Relevanz. Dementsprechend ist es im Schnitt auch wieder signifikant länger geworden. Wovon man sich aber wohl dauerhaft verabschiedet hat, ist der „one size fits all“-Ansatz. Es wird spezifisch entschieden, es wird auch flexibel auf Einspielergebnisse reagiert. Insgesamt haben die Fenster nicht wieder die Länge erreicht, die sie im Durchschnitt vor der Pandemie hatten, gleichzeitig war der Markt durch die Lücken im Releasekalender zuletzt aber etwas „luftiger“. Filme hatten unabhängig vom Exklusivzeitraum damit oft mehr Zeit zum Atmen, wie es etliche Langläufer nahelegen. Insgesamt kann man sagen, dass eine signifikante Veränderung des Multiplikators zumindest noch nicht klar zutage getreten ist.

Hollywood scheint in China – mit wenigen Ausnahmen, die sich primär auf Koproduktionen fokussieren – beinahe abgemeldet zu sein. Sehen Sie dort noch die Chance auf eine Trendumkehr? 

Thomas Beranek: China ist generell relativ opaque. So schwer es war, vorherzusehen, dass der US-Film dort so plötzlich und drastisch einbrechen würde, so schwer ist es, vorherzusagen, ob sich der Trend wieder umkehrt. China ist mittlerweile ein riesiger Markt, der in den 2010er-Jahren ein extremes Wachstum erlebt hat. Nicht nur in der Kinolandschaft, sondern parallel dazu vor allem auch in der Produktion. Mittlerweile hat man dort ein sehr hohes Produktionsniveau erreicht; lokale Filme erzielen oft unglaublich starke Ergebnisse und dominieren den Markt zulasten vor allem der Titel aus den USA. Der Publikumsgeschmack hat sich in China tatsächlich deutlich geändert, dementsprechend muss man vermutlich auch für ausländische Filme neu definieren, was die Inhalte sind, die dort einen Markt finden können.

Eine (nicht allzu erbauliche) Momentaufnahme: Der Stand im globalen Kinomarkt Ende April. (Quelle: Gower Street)

Was bedeutet der Einbruch in diesem Markt generell für die Strategie der Studios?

Thomas Beranek: Der chinesische Markt war schon immer schwer einzuschätzen. Selbst vor der Pandemie war oft bis kurz vor Start unklar, ob ein Film einen der Slots bekommen würde, gleichzeitig ging bekanntermaßen nur ein vergleichsweise geringer Anteil an den Einspielergebnissen an die US-Studios. Aber keine Frage, da war dieses massive Wachstum. Zwischen dem Anfang und dem Ende des letzten Jahrzehnts ging es von umgerechnet rund zwei Mrd. Dollar auf über neun Mrd. Dollar in der Spitze; damit einher gingen auch etliche fantastische Ergebnisse für Hollywood-Filme. Allerdings konnte man diese beinahe nie als gesichert ansehen, insofern sind wir eigentlich wieder in einer ähnlichen Situation wie vor einigen Jahren: Wenn ein Film in China reüssiert, darf man sich freuen, dann ist das „extra money“. Darüber hinaus waren Einnahmen aus diesem Markt zumeist ohnehin eher von Hoffnungen getragen, als dass sie verlässlich kalkulierbar waren. Zumal man stets davon ausgehen musste, dass sich die dynamische Entwicklung nicht endlos würde fortsetzen können.

Apropos abgemeldet: Muss „Deadpool & Wolverine“ tatsächlich das Superhelden-Genre retten?

Thomas Beranek: Nein. Ein einzelner Film sollte nie mit der Erwartung versehen werden, etwas „retten“ zu müssen. Das führt allenfalls zu überhöhten und unrealistischen Erwartungen. Abseits dessen deutet natürlich einiges darauf hin, dass er einer der erfolgreichsten Titel des Jahres, wenigstens des Sommers, wird. „Deadpool“ stand in seiner Machart aber immer schon ein wenig außerhalb anderer Superheldenfilme. Im Grunde war er ja zunächst fast als eine Art Anti-MCU-Film positioniert worden. Aufgrund der sehr eigenen Machart eignet er sich auch weniger als Blaupause für andere MCU-Adaptionen, aber sicherlich als Inspiration dafür, was möglich ist – sowohl innerhalb wie auch außerhalb des Superheldenkorsetts.

Was war aus ihrer Sicht der Hauptgrund dafür, dass das über Jahre hinweg so populäre Superhelden-Genre zuletzt so viele kommerzielle Enttäuschungen hervorbrachte?

Thomas Beranek: Unendliches Wachstum gibt es leider nicht. Gerade bei einem Genre, das in den Zehnerjahren so immens erfolgreich war wie die Superheldenfilme, war ein gewisser Downturn über kurz oder lang zu erwarten. Sicherlich erfolgte diese Abkühlung aber etwas schneller und radikaler als erwartet. Ich denke, dass die Superheldenfilme in gewisser Weise auch zum Opfer des eigenen kommerziellen und künstlerischen Erfolges wurden. Es sind Filme, in die sehr viel Aufwand gesteckt wurde, wo sehr viel ausprobiert wurde. Filme, die über viele Jahre immer wieder aufs Neue begeistern konnten. Ein derart hohes Niveau langfristig zu halten, ist alles andere als einfach – insbesondere dann nicht, wenn man die Produktion kontinuierlich hochfährt, immer mehr Titel herausbringt. In der ersten Hälfte der Zehnerjahre waren es um die zwei bis vier Titel pro Jahr, ab 2016 dann sechs und nach der Pandemie wurde dieser gestiegene Output gehalten, während gleichzeitig das restliche Blockbuster-Angebot geschrumpft war. Das führte zu einem Überangebot, der Novelty-Effekt ging verloren. Es wird immer schwieriger, neue, relevante, spannende Aspekte zu bieten. Man muss immer tiefer in den Katalog der Vorlagen einsteigen, neue Charaktere ausgraben – und im Fall des MCU war nach 22 Filmen mit „Avengers: Endgame“ natürlich erst einmal der Zenit der Erzählung erreicht. Einen neuen Bogen zu schaffen, ist eine Herausforderung, die auch mit Rekalibrierung einhergeht. Sicherlich war auch nicht hilfreich, dass die Produktionsausweitung zuletzt nicht nur im Kinofilmbereich stattfand, sondern auch in jenem der hochqualitativen Serien. Das hat beinahe zu einer Überwältigung geführt.

Weil die Erzählstränge dadurch zu komplex wurden?

Thomas Beranek: Das ist sicherlich eine der Schattenseiten des Erfolgs. Auf der einen Seite war es zunächst eine der großen Stärken insbesondere der MCU-Welt, dass man von Beginn an enge Zusammenhänge zwischen den Filmen schuf. Aber damit drohte irgendwann der Kipppunkt, an dem zumindest Teile des Publikums zunehmend das Gefühl bekommen konnten, das zu viel Vorwissen gefragt war. Das ist im Prinzip ein Problem aller großen Franchises mit zunehmend ausufernder Vorgeschichte: Dass man droht, Zuschauer zu verlieren, die diesen Filmen gegenüber eigentlich durchaus aufgeschlossen wären. Den sprichwörtlichen „sweet spot“ zu finden, ist nicht einfach. Man wird sehen, wie sich das Genre in den kommenden Jahren entwickelt, wenn die Kinowelten von Marvel und DC neu aufgestellt werden.

”Es fehlt schlicht an Kontinuität, an einem verlässlichen Flow von attraktivem Angebot für alle Zielgruppen.“

Thomas Beranek

Während die gesamte Branche die Hoffnung hegt, dass die Tentpole-Flaute spätestens 2025 ein Ende findet, bringt sich Sony gemeinsam mit Apollo als potenzieller Käufer von Paramount in Stellung. Als eine derartige Fusion das letzte Mal über die Bühne ging, trug es nicht gerade dazu bei, die Startlisten über Gebühr zu füllen…

Thomas Beranek: Aktuell ist die Situation noch schwer einzuschätzen, auch weil sich die wettbewerbsrechtliche Atmosphäre in den USA in den vergangenen Jahren deutlich verändert hat. Ein Merger von zwei Major-Studios erscheint heutzutage schwieriger als in den Zeiten der Übernahme von Fox durch Disney. Gesetzt den Fall, dass Sony und Paramount fusionieren könnten, wäre aber zumindest festzustellen, dass es sich um zwei Studios handelt, die jeweils einen etwas geringeren Output haben, als es bei Disney und Fox der Fall war. Dementsprechend sehe ich auch in einem fusionierten Unternehmen durchaus das Potenzial für eine gegenüber dem Output jeweils nur eines Studios höhere Zahl an Kinostarts, auch wenn sie per Saldo tendenziell etwas abnehmen könnte. Eine Reduktion in dem Ausmaß, wie man sie nach der Fox-Übernehme gesehen hat, steht aus meiner Sicht aber nicht zu erwarten. Grundsätzlich ist selbst ein geringes Minus in einer Zeit, in der man sich eher mehr Filme erhofft, weil immer noch weniger ganz große Titel auf die Leinwand kommen als vor der Pandemie, aber natürlich nicht das, was sich die meisten Marktteilnehmer wünschen. Insofern könnte es ein Problem sein – es könnte allerdings auch anderen Playern die Chance geben, die Lücke zu füllen. Seien es kleinere bzw. mittlere Studios – oder auch Unternehmen wie Apple oder Amazon.

Eine wenig diffus wirkt die Kinostrategie gerade bei Amazon aber mitunter durchaus noch…

Thomas Beranek: Ja, da scheint man mir aktuell in der Tat noch in einem gewissen Findungsprozess zu sein.

Um noch ein wenig tiefer in die Glaskugel zu blicken: Glauben Sie weiter daran, dass perspektivisch wenigstens wieder die Umsatzniveaus der Jahre 2017 bis 2019 erzielt werden können?

Thomas Beranek: Grundsätzlich erscheint es mir absolut möglich, wieder auf dieses Niveau zu kommen. Es gibt eine große Nachfrage nach Kino, es gab auch in den vergangenen Jahren immer wieder Rekorde auf lokaler, nationaler, ja sogar auf globaler Ebene – nehmen wir nur „Barbie“ als umsatzstärksten Film der Warner-Geschichte. Fünf der 16 global umsatzstärksten Filme der Geschichte wurden in den letzten zweieinhalb Jahren gestartet. Es mangelt nicht etwa an Kinobegeisterung. Woran es hakt, ist die nach wie vor noch zu geringe Anzahl an großen Starts. Es fehlt schlicht an Kontinuität, an einem verlässlichen Flow von attraktivem Angebot für alle Zielgruppen. Den hatten wir kurzzeitig im vergangenen Sommer – und man hat sofort gesehen, was wieder möglich ist. Mai und Juni kamen weltweit zumindest in der Nähe der vorpandemischen Durchschnittszahlen, der August erreichte das Niveau – und der Juli lag um satte 17 Prozent darüber! Leider ist der Produktflow dann wieder abgebrochen – aber für 2025 stehen schon jetzt sehr viele attraktive Filme in den Startlisten, allen voran „Avatar 3“, mit dem natürlich große Erwartungen verbunden sind, nachdem die Vorgänger auf #1 und #3 der erfolgreichsten Blockbuster aller Zeiten stehen.

Kann 2025 also die Chance auf diesen entscheidenden Meilenstein auf dem Weg der Erholung bieten?

Aktuell wäre es noch zu früh, um für das kommende Jahr vorpandemische Zahlen zu prognostizieren. Tatsächlich denke ich, dass es vielleicht noch ein wenig länger dauert, um wieder direkt zu den Jahren 2017 bis 2019 aufzuschließen. Auf alle Fälle ist für 2025 aber ein deutlicher Sprung nach oben zu erwarten.

Wie blicken Sie generell nach vorne? Was macht Ihnen Sorgen? Und was Mut?

Thomas Beranek: Von ernsthaften Sorgen könnte ich aktuell eigentlich gar nicht sprechen – ich blicke vor allem positiv und erwartungsvoll nach vorne. So dramatisch die Einbrüche durch die Pandemie auch waren, hat sie doch gezeigt, welchen immensen Wert das Kino für Milliarden von Menschen verkörpert. Die Branche wurde in ihrer über 100jährigen Geschichte schon häufig totgesagt. Trotzdem ist sie noch da, trotzdem war 2019 das weltweit erfolgreichste Boxoffice-Jahr überhaupt. Frankreich etwa hat im vergangenen Jahr schon wieder über 180 Mio. Kinobesuche verzeichnet. Das ist ein Wert, der im Schnitt der Nullerjahre und nur 13 Prozent unter dem Schnitt der Zehnerjahre lag – dem besuchsstärksten Jahrzehnt seit den 1960er Jahren. Ähnliche Entwicklungen sehen wir in vielen anderen Märkten, teils sogar noch positivere. Trotz Piraterie, trotz Streaming, trotz all der Herausforderungen, die die Kinobranche bremsen. Ermutigend sind zudem nicht nur die vielen Rekorde einzelner Filme, die wir in jüngerer Zeit gesehen haben. Sondern auch die großen Erfolge von Filmen, die als schwierig galten. „Wo die Lüge hinfällt“ hat gezeigt, welches Potenzial immer noch in RomComs steckt, die ja lange Zeit als nur noch für Streamingplattformen geeignet abgetan wurden. Ein kühner Film wie „Poor Things“ spielt fast 120 Mio. Dollar weltweit ein, ein schwarz-weißer, neorealistisch inszenierter Debütfilm wie „Morgen ist auch noch ein Tag“ schafft in Italien über fünf Mio. Besuche. Es gibt unzählige dieser Phänomene, die mich optimistisch nach vorne blicken lassen. Aber am Ende des Tages müssen wir alle gemeinsam daran arbeiten, dass es spannend bleibt. Dass die Attraktivität des Erlebnisortes Kino weiter wächst, dass die Ansprüche der Zuschauer erfüllt werden. Ein breites und abwechslungsreiches Programm ist natürlich Kernbestandteil. So groß die Strahlkraft der Kinobranche auch ist: Am Ende ist es eine vergleichsweise übersichtliche Branche, deren einzelne Stakeholder sich vielleicht noch seltener in Partikularinteressen verlieren sollten, die noch stärker gemeinschaftlich agieren sollten. Die Krise der Pandemie hat durchaus dabei geholfen, dass man teils etwas näher zusammengerückt ist. Die entsprechenden Lehren sollte man weiterhin beherzigen und nicht wieder im Alltagstrott vergessen. Aber ich bin guter Dinge!

Marc Mensch