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VENEDIG-Snapspot 3: Und Favoriten? Und Favoriten!

Das muss man Alberto Barbera lassen: Er weiß, wie man den Motor eines Festivals schnurren lässt. Nach der ersten Hälfte lässt sich bereits eine Handvoll von Löwen-Favoriten ausmachen. SPOT spielt die Möglichkeiten schon einmal durch. 

SPOT arbeitet selbst auf der Accademia-Brücke, wenn es nötig ist (Credit: SPOT)

Thomas Schultze: Halbzeit in Venedig. Immer ein guter Zeitpunkt, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Die natürlich gleich doppelt nichts bedeutet. Zunächst einmal haben wir eine Hälfte der Film im Wettbewerb noch gar nicht gesehen – es kommen auf jeden Fall noch „Joker: Folie à Deux“ und der neue Guadagnino mit einer angeblich epochalen Darstellerleistung von Daniel Craig (an richtig starken Männerrollen hat es im Wettbewerb bisher gemangelt, finde ich, sieht man einmal von Adrien Brody in Brady Corbets epochalem „The Brutalist“ und dem wunderbaren Auftritt von Harris Dickinson in „Babygirl“ ab). Zum anderen können wir Journalisten gut finden, was wir wollen: Wir wissen nicht, wonach die Jury um Isabelle Huppert, u. a. auch mit Julia von Heinz, sucht, worüber sie spricht, was ihr Herz höher schlagen lässt. Ich für meinen Teil kann aktuell nur sagen, dass das Festival in den letzten zwei Tagen einen spürbaren Satz nach vorn gemacht hat und sich zumindest der eine oder andere Anwärter auf Löwen-Ehren abzeichnet. Siehst Du das auch so, Barbara?

Tilda Swinton, Pedro Almodóvar, Julianne Moore (Credit: Giorgio Zucchiatti / La Biennale di Venezia)

Barbara Schuster: Das kann ich unterstreichen. In unserem letzten Snapspot habe ich ja gesagt, dass „Babygirl“ mein absoluter Favorit ist, ich ihm alle Preise geben würde. Das hat sich mit einem Schlag geändert. Was nicht heißt, dass „Babygirl“ nicht gut ist… aber er hat heftige Konkurrenz bekommen. Du hast schon „The Brutalist“ erwähnt. Ganz vorne rangiert für mich daneben nun auch Walter Salles’ „I’m Still Here“. Aber richtig umgehauen hat mich heute der neue Almodóvar. Wie ging es dir damit?

Brady Corbet, Mona Fastvold (Credit: Giorgio Zucchiatti / La Biennale di Venezia)

Thomas Schultze: „The Room Next Door” hat mir auch ausgezeichnet gefallen. Wie ich auch in meiner Besprechung schreibe, kann sich jedes Festival glücklich schätzen, einen neuen Film von Almodóvar zu haben, weil das bedeutet, dass es auf jeden Fall wenigstens schon mal einen guten Film im Programm hat. Mir gefällt die Unangestrengtheit, mit der er seit einigen Jahren arbeitet, als habe er niemandem mehr etwas zu beweisen. Ich kann mir vorstellen, dass es einen Löwen geben kann für ihn. Bisher ist es ein Jahr sehr, sehr starker Frauenrollen, angefangen bei Angelina Jolie in „Maria“, aber eben auch Nicole Kidman und heute bei Almodóvar Tilda Swinton und Julianne Moore. Am meisten beeindruckt hat mich bisher aber Fernanda Torres in Walter Salles‘ Film, den ich neben „The Brutalist“ für den stärksten Beitrag bisher halte. Ist natürlich immer schwierig, weil ein Darstellerpreis ja eigentlich nicht mehr in Frage kommt, wenn es noch eine andere Auszeichnung gibt, aber „I’m Still Here“ kann ich mir auch mit einem Goldenen Löwen vorstellen. Toller Film, starker Filmemacher, klare politische Haltung. Auf den könnte man sich einigen, oder?

Die Equipe von „I’m Still Here“ (Credit: Giorgio Zucchiatti / La Biennale di Venezia)

Barbara Schuster: Salles hat mich mit seinem Film von Anfang an abgeholt. Diese Szenerie an der Copacabana, wie die Kinder am Strand Volleyball spielen, das geschmackvoll eingerichtete Haus der Familie Paiva nur einen Steinwurf vom Strand. Es ist 1970, es läuft tolle brasilianische Musik…  Diese glückliche Familie mit ihren fünf Kindern und diese Mutter, von der von Dir genannten Fernanda Torres so mitreißend gespielt (außerdem ist sie die am geschmackvollsten gekleidete Frau aller Filme hier in Venedig – abgesehen nur von Swinton/Moore bei Almodóvar)… diese Feste mit Freunden, die gefeiert werden, bei Auflauf und noch tollerer Musik, es wird getanzt, gelacht – bis auf einmal alles vorbei ist. Eunice Paiva zählt auf alle Fälle zu den starken Frauenrollen, die auch mir auffallen. Wie auch in dem schönen „Vermiglio“ von Maura Delpero. Auch hier gibt es starke Frauenfiguren, wobei „stark“ ein blödes Wort ist. Fasziniert hat mich, wie die Geschichte, die Ende des Zweiten Weltkriegs in einem Bergdorf in Südtirol spielt und das Leben einer Großfamilie (noch größer als in „I’m Still Here’) beleuchtet, Geheimnisse nebenbei erzählt. Im Mittelpunkt stehen auch hier Frauen, insbesondere die beiden ältesten Mädchen der Familie, Lucia und Ada, wie auch deren Mutter, finde ich… Sie kann man nicht als „stark“ bezeichnen, aber sie sind fein gezeichnet, zeigen, wie das Leben damals für Frauen war. Wird man schwanger, muss man heiraten. Ist man Frauen zugeneigt, muss man Buße tun oder sich sogar selbst bestrafen. Ist man verheiratet, wird man zur Gebärmaschine. Glück hat diejenige, die Vaters Liebling ist und weiter auf der Schule bleiben darf. Was sagst du zu dem Film?

George Clooney, Brad Pitt (Credit: Giorgio Zucchiatti / La Biennale di Venezia)

Thomas Schultze: Hat mich mitgenommen. Zum Glück kam danach direkt im Anschluss die PV von „The Room Next Door“, wo es zwar auch um die schweren Themen geht, das Sterben, aber eben mit einer großen Wertschätzung des Lebens, die sich durch Kunst und Gestaltung offenbart. Große Klasse. Wie das ganze Festival. Wenn es einen Wermutstropfen gibt, dann ist es, dass sich „September 5“ in diesem Wettbewerb ausnehmend gut gemacht hätte. Die Kritiken nach der Premiere als Eröffnungsfilm der Orizzonti Extra waren euphorisch. Und auch in Telluride räumt Tim Fehlbaums Thriller, produziert von Thomas Wöbke und Philipp Trauer, verdienterweise ab: Variety rechnet dem Film bereits Chancen im Oscarrennen aus. Auch beim gestrigen Cocktail von German Films sprach man immer noch über den Abräumer. Aber first things first: Jetzt bringen wir erst einmal Venedig hinter uns, dann sehen wir weiter. Ich freue mich schon auf die nächsten Filme – und darüber berichten zu dürfen.