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REVIEW VENEDIG: „Queer“

Luca Guadagninos tabulose Verfilmung des ersten Romans von William S. Burroughs über einen Amerikaner im Mexiko des Jahres 1950, wo er sich schwulem Sex und harten Drogen hingibt und seine große Liebe entdeckt.

Luca Guadagninos „Queer“ mit Daniel Craig und Drew Starkey (Credit: A24)

CREDITS:
Land / Jahr: Italien, USA 2024; Laufzeit: 135 Minuten; Regie: Luca Guadagnino; Drehbuch: Justin Kuritzkes; Besetzung: Daniel Craig, Drew Starkey, Lesley Manville, Jason Schwartzman, Andra Ursuta, Michael Borremans, David Lowery

REVIEW:
33 Jahre nach „Naked Lunch“ von David Cronenberg folgt mit „Queer“ die zweite ernsthafte und ernstzunehmende Adaption einer Vorlage von William S. Burroughs, sein zweiter Roman, eine Fortsetzung von „Junkie“, geschrieben zwischen 1951 und 1953, aber erst 1985 erstmals veröffentlicht. Während Burroughs bei „Naked Lunch“ erstmals begonnen hatte, eine lineare Erzählform abzulehnen, und erstmals mit der Cut-Up-and-Fold-In-Technik experimentierte, die sein späteres Werk dominierte und zunehmend „unlesbar“ zu machen, zeichnet sich „Queer“ durch narrative Nachvollziehbarkeit aus, was automatisch auch Luca Guadagninos Film geradliniger und stringenter, aber keinesfalls weniger Burroughs macht. Wie schon im Roman verschwinden die Grenzen zwischen Biographie des Schriftstellers und ausgedachter Geschichte, befruchten sich gegenseitig. 

Luca Guadagninos „Queer“ mit Daniel Craig, Drew Starkey und Lesley Manville (Credit: A24)

Dabei ist „Queer“ verblüffend anders geworden, als man es sich anhand erster Meldungen ausgemalt hatte: Es ist kein verruchter Skandalfilm, kein Suhlen in verbotenem Sex, kein Exzess, kein Tabubruch. Es geht um Sex und es gibt Sex, er ist auch fleischlich und unmittelbar, aber Guadagnino überschreitet nicht die Grenzen des guten Geschmacks, geht nicht weiter als zuvor bereits in „Call Me By Your Name“ und „Challengers – Rivalen“. Wenn man doch bisweilen seinen Augen nicht trauen will, dann liegt es daran, dass man erstmals einen anerkannten Mainstream-Weltstar in derart intimen schwulen Liebesszenen sieht. Nachdem er zuletzt seinen Filmprivatdetektiv Benoît Blanc in „Glass Onion“ sein Coming-Out hatte erleben lassen und ausgesprochen aufreizend in Taika Waititis Belvedere-Wodka-Werbespot getanzt hatte, scheint Daniel Craigsmutiger Auftritt in „Queer“ nur konsequent. Es ist das Comeback des Grenzen überschreitenden Daniel Craigs, wie man ihn in jungen Tagen in Filmen wie „Love Is The Devil“, „The Mother“ oder „Enduring Love“ erlebt hatte.

Hier ist er William Lee, das Alter ego von William S. Burroughs. Weil er Ärger mit dem Gesetz hatte, hat er rübergemacht nach Monterrey. Man versteht schon, warum die Menschen ihm dort aus dem Weg gehen. Er ist kein Sympathieträger, keiner, den man mag, wenn er sich in den nächtlichen Straßen verliert, ein Einzelgänger, einsam, einen Revolver immer an seinem Hosengürtel, ein Nervenbündel, schwitzend, nervös, INTENSIV, auf der Suche nach Männern, nach schnellem Sex, nach etwas, was ihn aus der Stasis holt. Wo er ist, fühlt sich an wie das Wartezimmer zur Hölle, wie das Kaff zu Beginn von „Lohn der Angst“, wo man auch einfach nur abhängt und wartet. You can check in, but you can never leave. Bis Lee auf der Straße einen anderen Amerikaner sieht und es um ihn geschehen ist. Im Soundtrack läuft „Come As You Are“ von Nirvana, volle Lautstärke, weil es ein Moment ist wie aus einer anderen Welt. Es ist der Beginn einer Obsession, die auch ihre sexuelle Erfüllung findet, dann aber ganz andere Wege geht, wenn Lee und Allerton gemeinsam aufbrechen in Richtung Dschungel: Lee will dort „yage“ finden, eine sagenumwobene Droge, die bei Telepathie und Gedankenkontrolle wirken soll. Je tiefer der Film in den Regenwald eindringt, desto mehr lässt er Vernunft und Ratio hinter sich. Ab jetzt ist er nur noch sich selbst und seiner eigenen Logik verpflichtet, ist er seine eigene Droge, sein eigenes „Yage“, das im frühen literarischen Schaffen von Burroughs so etwas wie seinen Weißen Wal darstellt, eine zwar real existierende Droge, aber in seiner Betrachtung eine Art Raison d’être, ein Idealzustand beim Streben nach Rausch und Bewusstseinserweiterung. 

Luca Guadagninos „Queer“ mit Daniel Craig und Drew Starkey (Credit: A24)

Ab diesem Punkt wird „Queer“ trippy, eine zunehmend transzendentale Erfahrung, der Mann, der einst James Bond war, wird zu Indiana Jones auf Cold Turkey, die Figuren werden Spielball für einen Bilderrausch (sic!) werden, den man als Luca Guadagninos „2001“ bezeichnen könnte, an dessen Ende ebenfalls ein alter Mann auf einem Bett liegt und stirbt. Was davor so klebrig und profan wirkte, wird jetzt zum kosmischen Kurier, eine Giftschlange in Form eines Unendlichzeichens, die sich selbst frisst, Anfang und Ende, begleitet von einer fast unkenntlichen Lesley Manville als Wissenschaftlerin in den Tiefen des Dschungels, die rein äußerlich eine enge Verwandte der von Tilda Swinton gespielten Mutter Suspiriorum in Guadagninos Remake von „Suspiria“ sein könnte: Es bedürfe „Hexerei“, sagt sie, um einen Yage-Trip durchzuführen. All in all is all we are, heißt es in dem Song „All Apologies“ von Nirana, den man zu Beginn des Films in der Version von Sinead O’Connor zu hören bekommt. Es ist keine einfache Reise, auf die der Film seine Zuschauer mitnimmt, und es bleibt abzuwarten, wie viele sich ihr anschließen wollen. Aber die es wagen, die sich einlassen auf diesen Fiebertraum, die werden belohnt mit einer Erfahrung, wie man sie nicht oft macht im Kino. 

Thomas Schultze