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REVIEW VENEDIG: „Kill the Jockey“

Absurde Komödie über einen legendären Jockey und dessen Freundin, die nach einem folgenschweren Unfall auf eine groteske Reise geschickt werden, auf der Identität, Geschlecht und Sexualität in Frage gestellt werden.

CREDITS: 
O-Titel: El Jockey; Land / Jahr: Argentinien, Mexiko, Spanien, Dänemark, USA 2024; Laufzeit: 97 Minuten; Regie: Luis Ortega; Drehbuch: Luis Ortega, Rodolfo Palacios, Fabián Casas; Besetzung: Nahuel Pérez Biscayart, Úrsula Corberó, Daniel Giménez Cacho, Mariana Di Girolamo, Daniel Fanego, Osmar Núñez, Luis Ziembrowski

REVIEW:
Eine absurde Komödie war angekündigt worden, eine absurde Komödie hat der Argentinier Luis Ortegaabgeliefert in seinem ersten Beitrag, der in die Hauptreihe eines der großen A-Festivals eingeladen wurde, in diesem Fall in den Wettbewerb von Venedig, wobei der Film eher nach Berlinale schmeckt. Aber eben auch das zeichnet Alberto Barbera aus, dass er neben den ganzen Schwergewichten – nach nicht einmal zwei Tagen im Jahrgang zum jetzigen Zeitpunkt jetzt schon „Beetlejuice Beetlejuice“ (Eröffnungsfilm außer Konkurrenz) und „Maria“ (Wettbewerb) – eben auch dem Abseitigeren, Suchenderen eine Plattform bietet, Filmen, denen man ansieht, dass ihre Regisseure die Ansätze zu einer ganz eigenen Handschrift haben, aber eben auch so aussehen, als sei die Vision ihres Machers nicht vollständig ausgeprägt.

Luis Ortegas „Kill the Jockey“ (Credit: Rei Pictures, El Despacho, Infinity Hill, Warner Music Entertainment)

Zum Staunen gibt es allemal genug in dieser bizarren Welt, die Ortega in „Kill the Jockey“ ausbreitet, dessen Inhaltsangabe nicht im Entferntesten wiedergibt, was einen als Zuschauer:in schließlich erwartet. Klingt eben nach Genre, nach Schwarzer Serie, nach existenzialistischem Gangsterstoff. Da heißt es: „Remo Manfredini ist ein legendärer Jockey, aber sein selbstzerstörerisches Verhalten beginnt, sein Talent zu überschatten und seine Beziehung zu seiner Freundin Abril zu gefährden. Am Tag des wichtigsten Rennens seiner Karriere, das ihn von seinen Schulden bei Mafiaboss Sirena befreien soll, hat er einen schweren Unfall, verschwindet aus dem Krankenhaus und irrt durch die Straßen von Buenos Aires.“ 

Alles klar, oder? Eben nicht. Das fängt schon damit, dass man gleich zu Beginn erst einmal den Eindruck gewinnt, ein Trupp knarziger Hackfressen aus einem Film von Aki Kaurismäki habe sich bei einer Wodka-Zechtour nach Argentinien verirrt. In expressiven Tableaus, die in satten Farben die jeweils zentrale Figur gerne in Großaufnahme in den Mittelpunkt rücken, werden mit grobem Pinselstrich die handelnden Charaktere vorgestellt und dabei immer Raum gelassen für groteske visuelle Gags oder ungewöhnliche Betrachtungen. Jockey Remo ist Jockey mit Ausrufezeichen, stets gekleidet in einem auffälligen Jockey-Outfit, ob er nun auf der Pferderennbahn ist oder nicht (gespielt von Nahuel Pérez Biscayart, unvergesslich in „120 BPM“ und bemerkenswert in „Persischstunden“), ebenso wie Mafiaboss Sirena ein Mafiaboss mit Ausrufezeichen ist und obendrein immer noch ein sehr, sehr dickes Baby bei sich trägt. Ist halt so. Bis zu besagtem Unfall bewegt sich die Geschichte in einem gängigen Rahmen, danach ist alles möglich: Remos schwangere Freundin sucht Trost bei einer Jockey-Kollegin, Remo selbst entkommt mit schwerer Kopfverletzung aus dem Krankenhaus und streift mit Pelzmantel und Handtasche und bizarr geschminkt durch die nächtliche Metropole, lässt mit jedem neuen Schritt Konventionen und gesellschaftliche Regeln zurück. 

Dabei ist Ortega, der 2018 mit seinem bisher bekanntesten Film „Der schwarze Engel“ in Un Certain Regard in Cannes vertreten war und zuletzt der Netflix-Serie „Narcos: Mexiko“ seinen starken Sinn für knallige visuelle Ausgestaltung angedeihen hatte lassen, nicht so ätzend wie ein Yorgos Lanthimos oder anspielungsreich wie ein Luis Buñuel. Aber er hat Freude am Beugen von Konventionen, an der Grenzüberschreitung: Gender und Identität sind in diesem Zusammenhang unverkennbar einzig und allein gesellschaftliche Konstrukte. In den Filmen Ortegas ist man, was man sein will. Keine Frage: Das ist gut so. Und doch fühlt sich „El Jockey“ etwas arg leicht an, wenig substanziell, ein Amuse geule für zwischendurch, das deutlich mehr Szenen von dem Kaliber gebraucht hätte wie jene gleich zu Beginn, in der Remo und seine Freundin, gespielt von Úrsula Corberó, sich ein Dance-off für die Ewigkeit leisten. 

Thomas Schultze