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REVIEW VENEDIG: „Ainda Estou Aqui / I’m Still Here”

Herausragendes Drama über eine brasilianische Familie Anfang der Siebzigerjahre, die in die Mühlen der Militärdiktatur gerät.

Walter Salles’ „Ainda Estou Aqui“ (Credit: Mostra Venedig)

CREDITS:
Land / Jahr: Brasilien, Frankreich 2024; Laufzeit: 135 Minuten; Drehbuch: Murilo Hauser, Heitor Lorega; Besetzung: Fernanda Torres, Selton Mello, Fernanda Montenegro

REVIEW:
Manchmal weiß man beim ersten Bild eines Films, der ersten Einstellung, dass einen Großes erwartet. Dass der Regisseur genau weiß, was er erzählt, über wen er erzählt, wie er erzählt. Walter Salles‘ „Andai estou aqui / I’m Still Here“ ist ein solcher Fall. Wir sehen in Nahaufnahme eine Frau beim Schwimmen im Meer, an der Copacabana, der Zuckerhut im Hintergrund, ein schwarzer Hubschrauber jagt über sie hinweg, auf Rio de Janeiro zu, ein Fremdkörper, ein Eindringling am strahlend blauen Himmel. 1970. Brasilien. Militärdiktatur. Alles stimmt, alles passt. Wie Salles die Stimmung setzt, wie er eine ganze Familie in einer dynamischen Sequenz etabliert, ihre Harmonie, ihre Dynamik, ihre Lebensfreude, die Welt, in der sie leben. Mädchen beim Beachvolleyball, ein kleiner Hund, der den Kindern zuläuft und den der Patriarch in ihrem hinreißenden Haus gleich am Eck auf der anderen Seite der Straße hochnimmt und auf den Namen Pimpão tauft. Die Familie von Rubens Paiva, ehemaliger Kongressabgeordneter der Arbeiterpartei, der 1964 nach dem Coup ins chilenische Exil gehen musste, aber seit in paar Jahren zurück ist auf heimischem Boden, ein erfolgreicher und angesehener Ingenieur. 

Walter Salles’ „Ainda Estou Aqui / I’m Still Here“ (Credit: Mostra Venedig)

In den frühen Szenen des ersten Films von Walter Salles seit seiner Kerouac-Adaption „On the Road – Unterwegs“ entsteht mit virtuosen Bilderfolgen des überzeugende Bild einer Wohlstandsfamilie in einer brasilianischen Metropole. Progressive Eltern, fünf Kinder, eine Haushälterin, ein offenes Haus, Geselligkeit, Freunde, Gäste. Dass nicht alles in Ordnung ist in Brasilien, davon künden die schwarzen Helikopter, Lastwagen mit bewaffneten Soldaten, willkürliche Verkehrs- und Ausweiskontrollen. Man fühlt sich erinnert an Alfonso Cuaróns „Roma“, der eine ähnliche Kulisse verwendete, in seinem Fall in Mexico City im Jahr 1971. Nur dass die explosive Stimmung auf den Straßen dort nur einmal zum Ausbruch kommt, in der berühmten Protestsequenz, und der Filmemacher dort explizit die Geschichte der eigenen Kindheit thematisiert. „Andai estou aqui“ erzählt eine in Brasilien berühmte Geschichte vom spurlosen Verschwinden eines respektierten Bürgers und dem verzweifelten Kampf seiner Frau, Anhaltspunkte über den Verbleib ihres Mannes zu finden und gleichzeitig ihr Leben mit den Kindern zu meistern, rückt also die politische Situation in den Mittelpunkt. 

Und doch fühlt sich der Film ganz persönlich und privat an, zeigt punktgenau so kleine Details, ist so speziell bei der Musikauswahl, dass es sich aus der persönlichen Erinnerung des damals 15-jährigen Walter Salles speisen muss. Es ist ein Film über die Familie Paiva, aber auch ein Film über die Erinnerung, wie es sich damals angefühlt hat, in Rio de Janeiro zu leben: Am Strand reiben sich die Mädchen anstelle von Sonnenmilch mit Coca-Cola ein, im Zimmer der ältesten Tochter hängen Poster von Tati und Godard, auf dem Plattenteller drehen sich Gal Costa, Jorge Ben, Tom Zé, Erasmo Carlos, wir sehen Albumcover von Caetano Veloso und King Crimson, die jüngeren Töchter tanzen selbstvergessen zu „Je t’aime“ („Hoffen wir mal, dass sie kein Französisch verstehen“), der Vater tut so, als würde er den gerade ausgefallenen Zahn einer Tochter im Strand vergraben, steckt ihn aber doch für sich ein, die kleinen Filmchen, die die älteste Tochter aus London schickt. Man will nicht, dass dieser endlose Sommer, zusammengesetzt aus privaten Super-8-Filmen und zahllosen Familienfotos, jemals endet. Als es dann passiert, kommt es wie ein Schock, ist das Eindringen ziviler Militärpolizisten in das Haus der Familie, als würden die eigenen vier Wände entweiht. Erst nehmen sie Vater Reubens mit, den man kennengelernt hat als liebevollen, humorvollen Mann und der seine harmlosen Solidaritätsaktivitäten für den brasilianischen Widerstand, das Weiterleiten von herausgeschmuggelten Briefen Verhafteter an Familienangehörige, vor Ehefrau Eunice und der Familie geheim gehalten hat. Er küsst noch eine Tochter, danach sieht man ihn nie wieder. Dann kommen sie für Eunice und ihre zweitälteste Tochter. 

Spätestens zu diesem Zeitpunkt rückt Eunice in den Mittelpunkt, eine beachtliche, todesmutige, brillante Frau, gespielt von Fernando Torres, die für Salles bereits 1995 in „Fremdes Land“ vor der Kamera gestanden war: Mit ihr erlebt man den Terror, die Einschüchterungsversuche der Junta mit, die Ungewissheit und die Ohnmacht, der eigenen Entscheidungen beraubt zu sein. Wenn ein Polizist ihr ins Ohr flüstert, all das Geschehene finde ohne seine Zustimmung statt, läuft es einem eiskalt über den Rücken. Wie Eunice für sich entscheidet, das Leben aller Härten und Erschwernisse zum Trotz für ihre Kinder und sich zu meistern, ohne jemals aufzugeben, die Regierung zu einem Geständnis zu bewegen, dass sie ihren Mann entführt, gefoltert und getötet hat, packt „Ainda Estou Aqui“ in Bilder, die der gewaltigen politischen Dimension immer gerecht werden, ohne sich davon zu erdrücken oder überwältigen zu lassen. Ein Film über das Leben ist es, über Familie, Zusammenhalt, Hoffnung, auch wenn die Lage alles andere als hoffnungsvoll erscheint. Zwei Sprünge nach vorne in der Zeit wird es geben, nach 1996 und nach 2014, an weitere entscheidende Momente im Dasein der Eunice Paiva: Das Leben geht weiter, andere Tragödien geschehen, wir sind immer noch da, aber die Erinnerung bleibt. Nicht von ungefähr beendet Walter Salles seinen überragenden Film mit dem Blick auf ein Familienfoto.  

Thomas Schultze