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REVIEW FESTIVAL: „Samia“

Bewegendes Drama über eine junge Frau aus Somalia, die davon träumt, ihr Land als Sprinterin bei den Olympischen Spielen zu vertreten.

„Samia“ von Yasemin Şamdereli (Credit: Weltkino)

CREDITS:
Land: Italien, Deutschland, Belgien, Schweden 2024; Laufzeit: 102 Minuten; Regie: Yasemin Şamdereli; Drehbuch: Yasemin Şamdereli, Nesrin Şamdereli, Giuseppe Catozzella; Besetzung: Ilham Mohamed Osman, Elmi Rashid Elmi, Riyan Roble, Zakaria Mohammed, Fathia Mohamed Absie, Amina Omar, Deka Mohamed Osman, Waris Dirie; Verleih: Weltkino; Start: 19. September 2024

REVIEW:
Ums Leben rennen. Sagt man immer so leichtfertig. Die Hauptfigur des neuen Films von Yasemin Şamdereli, ihrem ersten Spiefilm seit 2018 und ihrer ersten alleinigen Kinoregiearbeit seit ihrem größten Hit, „Almanya – Willkommen in Deutschland“, der 2011 knapp 1,5 Mio. Tickets verkaufen konnte, weiß dagegen, was es heißt, um sein Leben zu rennen. Rennen zu müssen. Sie wächst in Somalia auf, ein vom Bürgerkrieg gezeichnetes und vernarbtes Land, in dem die Islamisten die Macht übernehmen, als sie noch ein Mädchen ist. Fortan wird es immer wieder vorkommen, dass das Laufen, das sie als Neunjährige für sich entdeckt hat und seitdem mit Hilfe ihres besten Freundes trainiert, sie rettet, aus allen erdenklichen, aber auch lebensbedrohenden Situationen. Und dann doch nicht ausreicht.

Die Lebensgeschichte der somalischen Olympionikin Samia Yusef Omar ist das Thema dieses erschütternden und doch so zart und liebevoll beobachteten Dramas, allerdings nicht als Biopic, sondern durch den Spiegel einer Romanbearbeitung, „Mit Träumen im Herzen“ von Giuseppe Catozella, den Şamdereli einmal mehr gemeinsam mit ihrer Schwester Nesrin Şamdereli in Drehbuchform goss. Rein filmisch ist „Samia“ ein Quantensprung, ein ganz reifes Werk, das selbstverständlich auf eigenen Beinen stehen kann, aber gleichzeitig auch wie ein weiblicher Gegenentwurf zu Matteo Garrones „Ich Capitano“ wirkt, der den entbehrungsreichen Weg zweier Jungs von Afrika nach Europa nachzeichnet, die von einem besseren Leben träumen. Das eint sie mit Samia. Allerdings endet ihre Geschichte nicht mit einem Triumph. Niemand ruft euphorisiert, er sei Kapitän. Man wird eben nicht mit einem Hochgefühl aus dem Kino entlassen wie beispielsweise auch bei „Die Schwimmerinnen“, weil „Samia“ einem nicht vorgaukelt, dass man eben nur wollen muss, damit alles gut ist.

Das Schicksal von Samia Yusef Omar fand Niederschlag in den Medien. Es lässt sich auch bequem auf Wikipedia nachlesen. Der jungen Frau ist kein Happy-End beschieden. Es ist kein Spoiler, dass sie am 2. April 2012 bei ihrem Versuch, mit 61 weiteren Personen in einem Schlauchboot von Libyen nach Europa zu kommen, ertrank. Eine Woche nach ihrem 21. Geburtstag und vier Jahre nach ihrer Teilnahme bei den Olympischen Spielen in Peking, wo sie Flaggenträgerin ihres Landes war. Tatsächlich hatte sie den Höllentrip von Somalia aus auch angetreten, um bei den Olympischen Spielen in London wieder als 200-Meter-Läuferin für Somalia anzutreten. All das erzählt Yasemin Şamdereli in ihrem Film, der ineinander verschachtelt in den Zeitebenen springt, aber niemals verwirrend ist. Dem es vielmehr kunstvoll gelingt, die persönlichen Höhepunkte im Leben von Samia nahezu parallel zu den nicht wenigen niederschmetternden Rückschlägen und Tragödien zu montieren. 

Ihre Erkenntnis, fürs Laufen geboren zu sein und diese Leidenschaft auch dann noch umzusetzen, mit Hartnäckigkeit und Entschlossenheit, als es Frauen unter der Knute der Islamisten nicht mehr gestattet ist, unverhüllt auf die Straßen zu gehen und schon gleich gar nicht Sport zu treiben, ist treibende Kraft in ihrem Leben: Wenn Samia läuft, rennt, spurtet, dann ist sie bei sich, dann ist der Film bei sich, fast so, als könne ihr der Schrecken ihres Alltags dann nicht anhaben. Sie gewinnt als Mädchen beim Rennen gegen Jungs, sie entkommt als junge Frau ihren Verfolgern. Wenn sie trainiert, oftmals ist das nur nachts möglich, strahlt sie eine innere Schönheit aus, eine Zuversicht, das Leben doch selbst bestimmen zu können. Und kurz die Härten vergessen zu können, von denen es nicht wenige gibt. Erst verliert ihr liebender und sie immer unterstützender Vater als Unbeteiligter im Kugelhagel ein Bein, später wird er von einer Autobombe getötet. Nie kann man auf den Straßen sicher sein: Bewaffnete Männer und immer öfter auch Jungs bestimmen den patriarchalisch bestimmten Alltag, sowie man das Zuhause verlässt.

„Samia“ fängt das mit dokumentarischer Genauigkeit ein, gibt seiner Hauptfigur aber immer genug Luft zum Atmen. Ilham Mohamed Osman spielt sie als junge Frau, die das Wunder des Lebens mit strahlenden Augen registriert. Sie ist eine Entdeckung. Die Kamera liebt sie. Dass man die Geschichte durch ihre Augen miterleben darf, ist ein Gewinn, lässt einen teilhaben an den Höhen und zieht einem den Boden unter den Füßen weg, wenn die Tiefschläge kommen, wenn es aussichtslos ist, um sein Leben zu rennen.

Thomas Schultze