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Die Sammelwut des Filmkritikers: Schöner Phantomschmerz

„Was muss bleiben“ heißt eine Installation, die sich auf dem Münchner Filmfest dem Kritiker Michael Althen und seinem Videokassetten-Archiv widmet. „Aber was?“ fragt sich sein Freund und Sammler-Kollege Harald Pauli.

Michi lag vor einem meiner DVD-Regale, wahrscheinlich kniete er, aber in meiner Erinnerung machte er es sich auf dem Parkett (un)bequem, weil er ja doch lange Zeit grübelte. „Warte noch einen Moment“, sagte er, als ich zu der Erklärung ansetzte, „ich möchte es selber noch rauskriegen“. Sammler-Ehrgeiz.

Es war ehrlich gesagt nicht so viel herauszukriegen, mein Ordnungssystem für die damals wohl gut 1000 DVDs war ein vages, höchst individuelles: Regisseure und Stars, die sich einander nahestanden, waren in Gruppen sortiert, und Genres, Länder jenseits der USA hatten jeweils eigene Bereiche (heute brauche ich teils Stunden, um etwas (wieder) zu finden, falls mir vorher nicht die Lust vergeht). „Da war es bei den Kassetten einfacher“, resümierte Michi, der bei sich in Berlin auch noch keine befriedigende Lösung für seine DVD-Ordnung gefunden hatte.

Bei den VHS-Kassetten klebte man beiliegende Beschriftungs-Wapperl auf, mit dem Namen vom Regisseur, dem Filmtitel und fortlaufenden Nummern, die man anfangs per Schreibmaschinen-Register, später als Computer-Datei erfasste. (Im VHS-Fall hatte es man ja mit 90 Prozent Leerkassetten zu tun, die man bespielte, bei den DVDs waren es zu 90 Prozent bereits mit Filmen bespielte Produkte. Auf die simple Idee, deren Hüllen zur Systematisierung auch mit einem Nummernschild zu bekleben, sind wir nicht gekommen. Wahrscheinlich wäre es auch ein Sammler-Sakrileg gewesen, die ‚Collector’s Items‘ so zu entstellen).

Es war irgendwann Mitte der 2000er Jahre, Michael Althen, ein Film-Buff, den ich Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre im Münchner Filmmuseum kennengelernt hatte, der ein enger Freund wurde auch jenseits der Cineasten-Welt, war 2001 dem Lockruf des Geldes (vulgo Frank Schirrmacher/ FAZ) in die Hauptstadt gefolgt – ein Entschluss, der ihm allerdings nicht leichtfiel. Seine Strategie, um damit nicht allzu sehr zu hadern, hieß in den frühen Folgejahren: Fernbleiben.

Good Times: Harald Pauli und Michael Althen, damals, Juli 1997 (Credit: Harald Pauli privat)

Er war also lange nicht mehr in München gewesen. Bei einem der seltenen ersten Male übernachtete er bei mir und wir saßen oder lagen zu später Stunde mit einem letzten Bier vor den Regalen und diskutierten die Möglichkeiten einer Systematik. Denn mit der Jahrtausend-Wende war quasi ein Paradigmen-Wechsel eingetreten für uns Cinephile, die sich zu Hause eine Filmothek eingerichtet hatten. Die DVD hatte Einzug gehalten, die VHS war quasi obsolet geworden. Der Qualitätsunterschied war einfach unübersehbar, und Nostalgie und erster Sammelwahn hatten gegen eine bessere Bild- und Tonqualität auch emotional einfach keine Chance.

Filme sind nun mal nicht für das unscharfe, leicht schlierige Videobild gemacht, geschweige denn fürs Fernsehformat. Man mag auch ums digitale Bild, vor allem das hochauflösende streiten, was die plane Ästhetik betrifft. Aber wir hatten uns beide längst einen Beamer zugelegt, und diese Art von Projektion brachte schon unschlagbare (Klein-)Kino-Atmosphäre nach Hause. Das war unser neuer Stolz, und die Sammelwut fokussierte sich nun auf DVDs (bald dann auch Blurays), die nebenbei auch noch den Vorteil hatten, etwas weniger Platz zu beanspruchen.

Aber wir hatten nun unsere Video-Berge, Michi um die 5500 Filme auf halb so viel Kassetten, ich hatte meine Leidenschaft bei etwas weniger als der Hälfte gezügelt. Meine Lösung (bis heute): Die VHS-Kassetten stehen in zweiter Reihe in den Billy-Regalen (und fixieren so die DVDs in der ersten von hinten), und Filme, die ich auf DVD bzw. Bluray besitze, habe ich auf VHS entsorgt. Schafft Platz, wenn auch nicht ergiebig. Michis Lösung: Ab in den Keller der Wohnung in der Mommsenstraße, wo sie bis vor kurzem noch lagerten.

Der FAZ- und frühere SZ-Filmkritiker Michael Althen ist nun mehr als 13 Jahre tot, die Kassetten verstaubten und verschimmelten, seine Witwe wollte sie loswerden. Da entschloss sich sein Sohn Artur, der an der Münchner HFF Regie studiert, gemeinsam mit seiner Kommilitonin Sophie Mühe, einen Zwischenschritt einzulegen, der Entsorgung noch einen Moment des Innehaltens, des Nachdenkens und der Feier der Sammelleidenschaft entgegenzusetzen.

Harald Pauli

„Was muss bleiben“ nennen sie die Installation und Performance, die sie im Rahmen des Münchner Filmfests im Pavillon 333 (neben dem Museum Brandhorst) vom 30.6. bis 4.7. zelebrieren. Umrahmt von den zweieinhalbtausend Kassetten (natürlich in Billy-Regalen) laufen von 12 bis 19 Uhr auf sechs alten Röhrenfernsehern Ausschnitte aus den VHSs der Sammlung. Jeweils um 15 Uhr wird ein spezieller Film gezeigt, umrahmt von Texten von Althen und von Autoren der HFF-Zeitschrift „Revü – Flugblatt für Film“ zu dem jeweiligen Werk, gelesen von namhaften Schauspielern wie Mavie Hörbiger, Anna Maria Mühe, Liliane Amuat, Johannes Nussbaum oder Thomas Hauser. Am Dienstag, 2.7., moderiert Artur Althen um 15 Uhr eine Diskussion mit der Kritikerin und Kinomacherin Doris Kuhn (Werkstattkino) und dem Regisseur Dominik Graf zum Thema Sammeln und Erinnerungskultur, bevor dessen „Tatort“ „Frau Bu lacht“ zu sehen ist.

Was muss also bleiben? Ich weiß nicht, ob etwas bleiben muss – es bleibt vor allem die Erinnerung, die Erinnerung an eine andere Zeit, eine andere Kultur. Mittlerweile sind wir ja längst in der nächsten Ära angekommen, im Streaming-Zeitalter, in dem viele Filme, vielleicht die meisten, aber sicher nicht alle, digital aus dem Netz abrufbar sind. Haben die VHS-Kassetten, die wir mühevoll Abend für Abend mit Filmen von ARD, ZDF, den dritten Programmen und später auch 3Sat und Arte bespielten (Filme auf Privatsendern waren schwierig wegen der Werbepausen), heutzutage materiell keinerlei Wert mehr (größere Mengen sollten übrigens auf den Wertstoffhof), so ist dieser Prozess bei den DVDs auch absehbar. Was bleibt ist der immaterielle Wert, der natürlich sehr spezifisch und individuell ist.

Also der Wert des (filmischen) Sammelns, der ja erst mal ein egoistischer ist. Er hat natürlich eine Vorvergangenheit jenseits der VHS. Bevor man sich Filme ins Regal stellen konnte, war die einzige Alternative der Lagerung der Kopf und/oder das Herz – die Abspeicherung in der Erinnerung. Dazu bot München Ende der 70er für Deutschland einzigartige Möglichkeiten, vergleichbar wohl nur mit der filmkulturellen Kompetenz von Paris. Und ich meine hier nicht die Bandbreite der Filme, die von einer Vielfalt an Kinos geboten wurde (da hatte Berlin wohl auch mehr zu bieten).

Wir bewegten uns und verschwanden im cinephilen Bermuda-Dreieck von HFF, Filmmuseum und Werkstattkino. In der Filmhochschule gab’s am Freitag immer die filmhistorischen Vorführungen, kuratiert von Helmut Färber und Ulrich Kurowski. Legendäre Screenings! Im Filmmuseum durchforstete Enno Patalas täglich mit zwei Vorstellungen Kinogeschichte und -genres – und zwar ohne die teils im Feuilleton vorherrschenden ideologiekritischen Scheuklappen. Da schaute dann auch mal Clint Eastwood vorbei und ließ sich feiern. Und im Werkstattkino konnte man all das bestaunen, was selbst für Färber, Kurowski und Patalas zu gewagt, abseitig oder schlicht zu aktuell gewesen wäre. Was durchaus auch mit Mutproben mit der eigenen Aufnahmefähigkeit zu tun haben konnte (man denke nur an „Katzi“, der Vivisektion einer Katze).

Privatarchiv des Wahnsinns: So sammelt Harald Pauli (Credit: Harald Pauli)

Und weil man all diese Filmerfahrungen eben nur in der Erinnerung abrufen konnte, griff man auf haptische Hilfsmittel zurück, die einen dabei unterstützten, den ständig wachsenden Kanon einzuordnen, zu diskutieren oder zu hinterfragen. Vor der VHS war also die Filmliteratur – Bücher, Zeitschriften und Fanzines –  , die man zu sammeln anfing. Ich legte mir zudem ein Archiv an, in dem ich alle greifbaren Artikel sammelte. Heute noch stehlen mir 24 schwere Leitzordner Stellplatz, die ich mit Ausschnitten und Kopien aus SZ, FAZ, Zeit, tip und internationalen Publikationen, die ich in die Hände bekam, bestückt hatte. Habe ich damit jemals gearbeitet? Sicher ein paar Mal, in meinen Anfängen als Filmjournalist, um Porträts über Regisseure zu schreiben oder mich auf Interviews mit ihnen oder Schauspielern vorzubereiten. Aber es drehte sich vor allem um den Akt des Sammelns. Anfang der 90er hörte ich damit auf. Erst wurde es vom Filme-Sammeln via VHS abgelöst, dann natürlich obsolet durch die Informationsverfügbarkeit via Internet (wobei viele Artikel dort nicht zu finden sind, einfach weil viele Medien ihre früheren Ausgaben nicht digitalisiert haben – insofern hätte auch das Archiv vielleicht sogar einen Wert über den immateriellen hinaus… Trotzdem, den nächsten Umzug wird es nicht mehr erleben).

Aber man fängt natürlich nicht an, eine Sammlung aufzubauen, um damit später die Allgemeinheit zu erfreuen. Das ist bestenfalls ein angenehmer, in der Regel postumer Nebeneffekt. Der Impuls, der Reiz, der Trieb ist kein altruistischer, sondern ein egomaner. Etwas, möglichst natürlich alles, zu besitzen, jederzeit darüber verfügen zu können – und sich damit von anderen abzuheben.

Der Sammler ist ja – jenseits der eigenen Sammler-Welt, in der Freunde insgeheim auch immer eine Art Rivalen sind („woher hast Du das, wie konntest Du das kriegen, das will ich auch“) – eigentlich ein eher asoziales Wesen. Seine Liebe und Leidenschaft gehört der Sammlung, mehr noch dem Sammeln, der ständigen Jagd nach einer vermeintlichen Vollkommenheit, der Verfügbarkeit alles Verfügbaren des Genres, Formats oder Bereichs. Er ist ein Triebtäter, der dabei allerdings niemanden verletzt außer sich selbst (und vielleicht Partner und Familie, falls vorhanden, durch fehlende Präsenz und Nähe). Getrieben von einem Kitzel, einem Reiz irgendwo zwischen Sucht und Trieb, in jedem Fall bereit, mehr Zeit und Geld dafür zu investieren als gesund ist.

Der Sammler hat und liebt Rituale. Dazu gehörte etwa alle zwei Wochen oder zumindest einmal im Monat am Samstag, nach Erledigung des Wocheneinkaufs für die Familie und bevor die „Sportschau“ um 18 Uhr begann, zu Media-Markt oder Saturn zu pilgern und wieder einen Vorrat an Lehrkassetten zu kaufen. Bevorzugt 240er, da man sich bei 180er nicht sicher sein konnte, zwei Filme drauf zu bekommen. Klar, die klassischen 90-Minüter schon, zumal die im TV noch etwas kürzer liefen, aber welcher Film dauerte ab den 80ern nur noch 90 Minuten? Dazu kam dann auch noch, wenn die Rekorder eine Timer-Funktion für die Aufnahme hatten (anfangs saß man da wie das Kaninchen vor der Schlange, um punktgenau mitzuschneiden), musste man sich darauf verlassen, dass der Sendeplan exakt eingehalten wurde. Was natürlich auch nicht immer passierte. Geräte, die sich per Signal automatisch zu Filmbeginn einschalteten und etwa auch Werbepausen aussparten, gab es erst ziemlich spät.

Auf einen einfacher Nenner gebracht: Das Sammeln kostete brutal viel – an Geld und Zeit. Und letztlich dann auch noch an Raum. Und der Zielkonflikt ist programmiert, sobald man das Dasein als einsamer Mann verlässt, das die meisten Hardcore-Sammler fristen, wenn man sich ehrlich macht (Frauen sind da übrigens empirisch die Ausnahme der Regel).

Es gibt wohl zwei Kipppunkte des Sammelwahns, die sich beide bedingen oder überschneiden: Der eine resultiert aus äußerem Druck, stark vereinfacht gesagt stellt einen der Partner vor die Wahl: Ich oder deine Sammlung. Der andere wurzelt in einer sich langsam aufbauenden inneren Erkenntnis: Einsamkeit befördert die Sammelwut, man kompensiert damit fehlende Beziehungen. Schließlich lernt man im Lauf der Sammel-Leidenschaft diverse pathologische Fälle kennen, die zur Abschreckung dienen. Jemand, dessen Wohnung so von Sammlerstücken überquillt, dass sich die Eingangstür nur noch einen Spalt öffnen lässt, man sich seitlich durch den Gang schlängeln muss, als Schlafstatt nur noch die Badewanne dient. Oder ein anderer, der seine Wohnung längst verloren hat und nun mit seiner Sammlung vorerst in einem verwaisten Swimming-Pool unter einer Plane haust.

Was bleibt also? Der Kitzel, der intellektuelle Jagdinstinkt, ihn gespürt zu haben, von ihm gepackt worden zu sein. Der Punkt, wo es zu einer Sucht ausartet, an dem man den Absprung schafft, vielleicht auch dazu gezwungen wird, oder alles nur unter anderen Vorzeichen neu beginnt. Der nostalgische Spaß der Erinnerung daran, die Sehnsucht nach einer jugendlichen Unbekümmertheit und Gier, die längst vorbei sind, aber vielleicht auch das selbstironische Schmunzeln über die eigenen Verirrungen und übertriebenen Investitionen.

Es bleibt auf jeden Fall die Liebe zu Filmen (jenseits der zu Michi – beides auch viele wunderbare Erinnerungen). Und die absurde Vorstellung, dass sich diese mal manifestiert hat in unförmigen Plastikkassetten mit Magnetbändern. Nur: digitale Daten auf Silberscheiben oder per Stream sind auch nicht unbedingt sinnlicher…

Für SPOT exklusiv geschrieben von Harald Pauli.