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REVIEW FILMFEST HAMBURG: „The Assessment“

Eindringliche und visuell bestechende Dystopie über ein Paar in einer Welt nach der Klimakatastrophe, das erst einmal von einer Kontrolleurin auf Herz und Nieren geprüft werden muss, wenn es für ein Baby in Frage kommen will.

„The Assessment“ (Credit: TIFF)

CREDITS: 
Land / Jahr: Deutschland, USA, GB 2024; Laufzeit: 115 Minuten; Regie: Fleur Fortuné; Drehbuch: John Donnelly, Nell Garfath Cox, Dave Thomas; Besetzung: Elizabeth Olsen, Alicia Vikander, Himesh Patel; Verleih: Capelight; Start: 3. April 2025

REVIEW:
Gleich die ersten Bilder sind imposant, ein Mädchen, das allein im Meer schwimmt, eine Frau, die in Unschärfe aus der Ferne am Ufer besorgt in Richtung des Kindes ruft, das unterzugehen droht. Da ist jemand am Werk, der weiß, wie man Stimmung erzeugt und einen sofort in die Welt seines Films zieht. Für Dystopie braucht man keine raumgreifenden Kameraschwenks über verwüstete Großstädte und Drohnenflüge entlang brennender Hochhäuser. Es geht auch stiller, intensiver, glaubwürdiger. Ein Haus, eine karge Felslandschaft, Einsamkeit, ein Paar. Mehr hat „The Assessment“ erst einmal nicht zu bieten. Mehr benötigt das Spielfilm-Regiedebüt von Fleur Fortuné auch nicht, um ihren Film funktionieren zu lassen, der ein kleines Wunder an geschmack- und stilvoller Ausstattung. Mia und Aaryan leben in diesem Haus, gespielt von Elizabeth Olsenund Himesh Patel, ein intelligentes und attraktives Ehepaar, das sein Glück gerne perfekt machen würde. 

Was bedeutet, dass sie ein Kind bekommen wollen in einer Welt, in der das Kinderbekommen eine selektive Angelegenheit geworden ist, streng kontrolliert von den staatlichen Stellen, die absolute Kontrolle ausüben auf die „Glücklichen“, denen ein Leben in der neuen Welt beschieden ist, beschützt und abgeschottet von der „Alten Welt“, jene Welt also, die von der Klimakatastrophe in die Knie gezwungen wurde. Keiner war jemals dort, aber, so heißt es, es soll die buchstäbliche Hölle auf Erden sein: Niemandem wird angeraten, durch das unterirdische Portal in diesen lebensfeindlichen Moloch zu wechseln. Leicht hat man es indes auch in der Welt der Privilegierten nicht. Wer ein Kind bekommen will, muss sich einem rigiden Kontrollprozess unterziehen, dem „Assessement“: Ein Kontrolleur wird dem ausgewählten Paar zur Seite gestellt, der weit in dessen Privatsphäre eindringen darf bei einer Reihe von zunehmend übergriffen Prüfungen, die die Elterntauglichkeit der Testpersonen festlegen soll.

Die Gutachterin ist Virginia, gespielt von Alicia Vikander, eine perfekte Wahl, weil der schwedischen Oscargewinnerin (für „Ex_Machina“) neben ebenen Zügen eine gewisse Strenge in die Wiege gelegt wurde, ein undurchdringliches Pokerface, eine eisige Unbewegtheit, die es für die Testpersonen unmöglich macht zu erkennen, was in ihr vorgeht und ob sie mit ihren Handlungen richtig liegen. Aufgeteilt in sieben Kapitel, eines für jeden Tag der Einschätzung, beginnt die Prüfung einfach genug mit grundsätzlichen Fragen. Doch schon am zweiten Tag, als Virginia ein patziges und ungezogenes Kind spielt und die Geduld von Mia und Aaryan auf eine harte Probe stellt, schleicht sich eine gewisse Übergriffigkeit ein, die sich mit jedem neuen Tag steigert und zu einer Machtprobe wird, ein Zweikampf des Willens, bei dem auch ein Keil zwischen das Paar getrieben wird. Ein Ausflug zum Strand endet beinahe mit einem tödlichen Unfall, ein abendliches Get-Together mit der Familie (stark: Minnie Driver) endet in einem Debakel. 

„The Assessment“ ist eine Tragödie, erzählt als schwarze Komödie mit bissigem, ätzendem Humor, eine krachende Abrechnung mit der Zukunft der Menschheit, in der nicht klar ist, was vorzuziehen ist, die vermeintliche Utopie oder der Wahnsinn des täglichen Überlebenskampfs. Der Film endet mit einem dreigeteilten Ende, jedes von ihnen überraschend und anspielungsreich. Jeder der Figuren geht ihren eigenen Weg, muss ihre eigenen Konsequenzen ziehen, bisweilen mit bitteren Folgen in dieser Parabel über den endlosen Schmerz der Mutterschaft. Wenn es eine große Freude gibt in dieser majoritär deutschen Produktion der Kölner augenschein Filmproduktion (Produzenten: Jonas Katzenstein, Maximilian Leo), dann ist es die Rückkehr von Elizabeth Olsen vom Olymp der Marvel-Götter: Hier ist sie so gut wie einst in „Martha Marcy May Marlene“, als sie zu den größten jungen Talenten im unabhängigen Hollywood zählte. Good to have you back. Der eigentliche Star der Show, wenn man so vermessen sein darf, ist Regisseurin Fleur Fortuné, die all die visuelle Power ihrer ikonischen Musikvideos für Stars wie Travis Scott, Drake oder Lykke Li mitbringt, ihr Gespür für brillante Kompositionen, aber auch ein Auge für die menschliche Seite der Dinge mitbringt, das „The Assessment“ erst so richtig gut werden lässt.

Thomas Schultze