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REVIEW CANNES: „The Girl With the Needle”

Ein „Märchen für Erwachsene“, in dem eine junge Farbikarbeiterin in Kopenhagen nach dem Krieg ums Überleben kämpft und sich auf einen Deal mit der Teufelin einlässt.

CREDITS:
O-Titel: Pigen med nålen; Land/Jahr: Dänemark, Polen, Schweden 2024; Laufzeit: 115 Minuten; Regie: Magnus von Horn; Drehbuch: Magnus von Horn, Line Langebek; Besetzung: Vic Carmen Sonne, Trine Dyrholm, Besir Zeciri, Joachim Fjelstrup

REVIEW:
Die Welt ist ein schrecklicher Ort, erklärt eine der Figuren in „The Girl with the Needle“ zu einem späten Zeitpunkt in der Handlung. Man könne nur hoffen, dass es nicht so ist. Gleich zu Beginn des Films sieht man in einer Abfolge von Bildern vor schwarzem Hintergrund Gesichter wie vor einem Zerrspiegel, verkrümmt und entstellt vor Schmerz und Agonie. So geht’s los. Was folgt, ist keine schöne Geschichte. Zu Teilen ist es eine wahre Geschichte, die irgendwo im Kern verborgen ist, eine bizarre Mordreihe, die damals, kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs, für Schlagzeilen sorgte in den Zeitungen und für Empörung in der Öffentlichkeit. 

Magnus von Horns „The Girl With the Needle“ (Credit: Lukasz Bak)

Darum drapiert Regisseur Magnus von Dorn, ein Schwede, der seit vielen Jahren in Polen lebt, eine Art pechschwarzes Märchen, expressionistisch gehalten als Schattenspiel in Schwarzweiß. Tolle Bilder, tolle Gestaltung, dichte Atmosphäre. Stark. Es gibt eine böse Stiefmutter, die auch eine Hexe sein könnte, ganz sicher aber eine Teufelin ist. Eine Engelmacherin, die die Abtreibungen erst nach Geburt der Kinder vornimmt. Nur dass die verzweifelten Eltern, die ihr ihre Neugeborenen anvertrauen, denken, dass für die Kleinen ein neues Zuhause gefunden wird, dass es ihnen besser gehen wird. In der Welt von „The Girl with the Needle“ geht es niemandem besser, den meisten nicht im Entferntesten gut. 

Karoline ist eine junge Frau Anfang Zwanzig, absolut irre gespielt von Vic Carmen Sonne, die keine Angst vor Hässlichkeit zeigt. Erstmals sieht man sie mit einer Nadel in einer Textilfabrik, in der sie schuftet, aber nicht genug verdient, um ihre kleine Wohnung behalten zu können, in der sie lebt, seitdem ihr Mann vom Großen Krieg geschluckt wurde. Keiner weiß, was aus ihm geworden ist. Sie hat eine Affäre mit dem Fabrikbesitzer, wird schwanger und von ihm sitzengelassen. Wieder kommt eine Nadel zum Einsatz, eine viel längere und größere, die Karoline fast das Leben kostet und die Bekanntschaft machen lässt mit Dagmar, die sie unter ihre Fittiche nimmt und hinter der Kulisse eines Süßigkeitenladens eine illegale Adoptionsagentur betreibt. Jetzt gerät Karoline, mehr und mehr gezeichnet, von ihrer nicht enden wollenden Tortur, der fortwährenden Abwärtsspirale, in den Bann dieser Frau, die der Film immer wieder in Schatten hüllt oder aus dem Dunkeln treten lässt.

Als Thierry Frémaux den Titel bei der Programmpressekonferenz verlas, war „The Girl with the Needle“ die ganz große Überraschung, die niemand auf dem Zettel gehabt hatte. Aber natürlich ist es einleuchtend, warum er ausgewählt wurde. Faszinierend ist die Radikalität des Films, die souveräne Kontrolle, die Regisseur Magnus von Horn über die Gestaltung seiner dritten Regiearbeit hatte. Wie er intensive Bilder erschafft, die weit über sich selbst hinaus verweisen, die Geschichte des Kinos atmen. Einmal sieht man die Arbeiter gemeinsam die Fabrik verlassen – eine fast exakte Nachstellung der allerersten Filmaufnahmen der Brüder Lumière. 

Ein Schlüsselmoment ist die Rückkehr des Ehemanns nach dem Krieg, der eine Ledermaske tragen muss, damit man die äußere Zeichnung seiner Wunden nicht sehen kann. Er ist das Spiegelbild von Karoline, die ihre Verwundung in sich trägt und kenntlich macht, weil ihr immer öfter die Gesichtszüge entgleiten. Es ist keine schöne Erfahrung, diesen Film zu sehen, im Kopf von Karoline und später auch Dagmar zu sein, die ohne jeden Eitel von Trine Dyrholm gespielt wird. Aber es ist auch eine elektrisierende Erfahrung. Weil ihr ganz persönlicher Horror so echt ist. Und Magnus von Horn ihn nachvollziehbar macht in einer Kaskade von Kakophonie in seinem Meer der Versehrten, die am Ende, Wunder, sogar so etwas wie ein Happy-End bereithält. 

Thomas Schultze