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Jeff Nichols über „The Bikeriders“: „Für mich ist es eine Zeitkapsel“

„The Bikeriders“ ist ein amerikanischer Film wie aus einer anderen Zeit. Und er ist wunderbar. Wir sprachen in Berlin mit Regisseur und Autor Jeff Nichols über sein Bikermovie mit Austin Butler, Jodie Comer und Tom Hardy, den Universal am Donnerstag in die Kinos bringt. 

Jeff Nichols, Regisseur von „The Bikeriders“ (Credit: Olivier Borde / Universal Pictures)

Im Vorwort der Neuauflage seines Fotobuchs „The Bikeriders“ schreibt Danny Lyon, er habe das Buch zusammengestellt, „in an attempt to record and glorify the life of the American biker“. Das entspricht nicht Ihrem Ansatz bei der Adaption, richtig?

Jeff Nichols: Richtig. Zur Ehrenrettung von Danny muss ich sagen: Das Leben, das der amerikanische Biker von heute führt, lässt sich nicht mit damals vergleichen. Da ist nichts mehr, was man glorifizieren wollte. Damals war das anders, da kann man diesen Ansatz verstehen. Und in gewisser Weise ist es das, worum es in meinem Film geht. Es geht genau um den Wandel, die entscheidende Veränderung, den Moment, an dem der Motorradclub zu etwas wird, was seine Gründer niemals beabsichtigt hatten, und sie können nichts dagegen tun. Diese Leute, die man als Outsider im Wortsinne bezeichnen könnte, haben den Club gegründet, um ihrer persönlichen Leidenschaft eine Form zu geben, woraus sich wie von selbst eine organisierte Struktur mit Regeln und Hierarchien entwickelt. Und dann kommt der Wandel, dem Club wird von außen eine Bedeutung gegeben, eine Zielsetzung. Und die ist nicht unbedingt positiv. Das hat mich interessiert. 

Das macht ja auch das Buch selbst so spannend – ein Snapshot der Zeit… 

Jeff Nichols: Danny mag das vielleicht so aufgeschrieben und tatsächlich auch gemeint haben, aber ich habe „The Bikeriders“ nie als Glorifizierung von Bikern empfunden. Für mich ist es eine Zeitkapsel. Wenn man sie öffnet, verfolgt man das Verhalten einer sehr spezifischen Gruppe von Menschen in einer spezifischen Zeit, die vergangen ist. Dieser Moment wird sich niemals wiederholen, er ist unwiederbringlich weg. Ich mag den Ausdruck „unschuldig“ nicht, aber „naiv“ trifft es ganz gut. Das hat mich interessiert: Menschen, die einfach nur den Moment leben und nicht verhindern können, dass er ihnen durch die Finger rinnt.

Kameramann Adam Stone, Austin Butler und Regisseur Jeff Nichols am Set von „The Bikeriders“ (Credit: Kyle Kaplan/Focus Features)

Die Fotos halten den von Ihnen angesprochenen Moment sehr gut fest. Und doch ist es mehr als eine Dokumentation, es ist der Versuch, einen Mythos zu erschaffen. Der reale Biker, auf den der von Austin Butler gespielte Benny basiert, ist auf zwei oder drei Fotos zu sehen. Immer wirkt er inszeniert, nie sieht man sein Gesicht. 

Jeff Nichols: Er wurde für das Buch auch nicht interviewt. Schon auf den Seiten ist er ein Mythos, eine Legende, ein Enigma. Das wird verstärkt dadurch, wie Kathy über ihn erzählt. Oder durch den Zeitungsartikel, in dem steht, wie er eine rote Ampel nach der anderen überfährt und dabei Vollgas gibt und dann nur deshalb verhaftet werden kann, weil ihm das Benzin ausgeht. Was für ein Badass! Wenn man dann aber weiterliest bei Kathy, wird das Bild schon differenzierter. Er ist auch losgelöst, von seinen Emotionen und anderen Menschen. Das hat pathologische, fast schon psychotische Züge. Das fand ich spannend. Da ist dieser Typ, den ich gleich unfassbar cool finde, und erfahre über ihn, dass man ihn nicht erreichen, nicht berühren kann, dass es unmöglich ist, eine bedeutungsvolle Beziehung mit ihm aufzubauen. Das war der Ausgangspunkt für meine Überlegung, in den Mittelpunkt des Films ein Liebesdreieck zu rücken. Das gab der Geschichte ihren narrativen Drive: diese beiden Menschen, die diesen einen Mann über alles lieben, dessen Tragödie es ist, dass man ihn nicht lieben kann, weil er nicht gebaut ist, dieses Gefühl erwidern zu können. Er funktioniert so nicht, spiegelt sich nicht an anderen Menschen. Da steckt Konflikt drin, Drama. Das ist mein Film.

„Ohne Austin hätten wir gar nicht anfangen müssen. Ohne ihn funktioniert der Film nicht, den ich machen wollte.“

Weil es in einem Film schwer möglich ist, dieses unerreichbare Objekt der Begierde nicht zu zeigen, drehen Sie den Spieß um. Sie mussten für Benny einen Schauspieler finden, der so schön ist, dass man die Augen zusammenkneifen muss, weil er von innen heraus zu strahlen scheint. 

Jeff Nichols: Ich musste Austin Butler finden. Ohne ihn hätten wir gar nicht anfangen müssen. Ohne ihn funktioniert der Film nicht, den ich machen wollte. Das wusste ich in dem Moment, an dem ich ihn in Los Angeles zum ersten Mal getroffen habe. „Elvis“ war noch nicht gezeigt worden, ich kannte seine Arbeit nicht so richtig. Er kam auf mich zu und schüttelte meine Hand. Und das einzige, was ich in diesem Moment denken konnte, war: Wow, das ist ein Filmstar! Dies ist ein Mensch, dessen Nähe man begehrt. Und nicht nur, weil er schön ist – und verdammt, er ist schön! -, sondern weil er auch Ausstrahlung hat, Charisma. Er hat etwas, dem man sich nicht entziehen kann. Das stellte mich beim Dreh vor echte Probleme. Ich hatte die Figur als unberührbar geschrieben, stoisch, von der Welt abgeschlossen. Und ich stehe da und inszeniere Austin Butler, der einfach da ist und leuchtet und nicht anders kann, als zu lächeln und charmant zu sein. Ich wollte das unterbinden, musste dann aber später im Schnitt erkennen, dass das ein falscher Impuls von mir war. Die besten Aufnahmen waren genau die, in denen er seine Emotionen zeigt, aber offenbar mit meinen Anweisungen ringt, sie zu unterdrücken. Da hatte ich dann James Dean, diesen jungen Rebellen: Es ist nicht so, dass er sich nicht ausdrücken will. Er kann es einfach nicht. 

Dabei wäre Tom Hardys Johnny so gern wie Benny. Er hat seine Persona nach dem Vorbild von Marlon Brando in „The Wild One“ eingerichtet, und tatsächlich ist es so, dass er diesen harten Gangboss lange ja nur spielt, er ist ein Poser, bis dann neue Leute in die Gang kommen, die ihn nur so kennen und damit zwingen, der harte Gangboss tatsächlich zu sein. Er ist eine tragische Figur.

Jeff Nichols: Ich habe viele Lieblingseinstellungen in diesem Film. Ganz besonders liebe ich aber den Moment, in dem die Kamera langsam auf Tom Hardys Gesicht zufährt, als die Bar brennt, und man Kathys Stimme aus dem Off hört: Ich denke, dass es ihm eine Heidenangst bereitete. Tom wusste, dass diese Zeile zu hören sein würde. Er tut zwar hart und cool und sagt auch: Die Feuerwehr traut sich nicht einmal her, weil alle Schiss vor uns haben. Aber in diesem kurzen Moment, da gelingt es Tom, Johnnys eigene Angst zu zeigen. Er weiß, dass ihm diese Sache über den Kopf wächst, dass er die Geister, die er gerufen hat, diese Aggression, diese Gewalt, nicht mehr loswerden wird. Und dass er irgendwann dafür zahlen muss. Er spürt das. Tom Hardy macht das so toll. Aber es ist doch so: Sein Schicksal entscheidet sich, als er Marlon Brando im Fernseher sieht. Als er sagt: „Fäuste oder Messer?“. Als er sagt, dass die Typen aus Milwaukee mitmachen und ihr eigenes Chapter gründen. Jede Entscheidung rückt ihn näher an den Abgrund. Tom traf es perfekt, als er zu mir sagte: „Du kannst halt kein halber Gangster sein.“

RegisseurJeff Nichols und Austin Butler am Set von „The Bikeriders“ (Credit: Kyle Kaplan/Focus Features)

Wenn man das Buch kennt, dann wird man einräumen müssen: Ihr Film trifft es zu 100 Prozent. Die Bilder stimmen, die Anmutung, die Atmosphäre, der Text. Und doch haben Sie auch die Entscheidung getroffen, eine fiktionale Geschichte zu erzählen. Warum?

Jeff Nichols: Um das Gefühl zu evozieren, das ich habe, wenn ich mir Dannys Buch durchblättere, die Texte lese, blieb mir keine andere Wahl. Das ging nur mit einer fiktiven Geschichte, ich musste Freiheiten haben. Wenn es meine Absicht gewesen wäre, die Chicago Outlaws zu dokumentieren, aus denen die Outlaws wurden, die bis heute zweitgrößte Motorradgang der Welt, dann wäre ich zu einem anderen Narrativ verpflichtet gewesen, dann hätte ich eine andere Geschichte erzählen müssen. Meine Absicht war es aber, dem Zuschauer ein Gefühl zu vermitteln, das Spannungsfeld zwischen den Fotos und den Interviews im Buch aufzuzeigen. Sie bedingen einander, sie kommentieren einander, sie widersprechen einander. Diese Spannung ist elementar. Also musste ich erst einmal meinen eigenen Motorradclub erfinden.

Hat bestimmt Spaß gemacht. 

Jeff Nichols: War ganz schön tricky. Es ist nicht so einfach, wie man denkt. Nur ein Beispiel: Man sitzt da mit Google und probiert Namen aus. Jeder denkbare Name ist bereits belegt. Jeder! Bis mir Vandals einfiel, die es zwar als Namen einer Punkband aus Los Angeles gab, aber nicht als Motorradgang. Das war gut genug für mich. Es fühlte sich richtig an, weil es sich anfühlte wie ein Name, den es schon ewig gibt. Die gleiche Sache mit dem Liebesdreieck: Die Beziehung zwischen Benny und Kathy konnte ich dem Buch entnehmen, teilweise sogar wortwörtlich. Rund zwei Drittel ihrer Dialoge habe ich eins zu eins aus den Interviews im Buch übertragen. Die Beziehung zwischen Benny und Johnny habe ich mir ausgedacht. Was wiederum auch Kathy und Johnny miteinander verband. Sie haben ein paar starke Szenen miteinander. Ich weiß nicht, ob ich das gut erklären kann, aber diese künstlerischen Freiheiten haben es mir erlaubt, dem Buch näher zu kommen, dabei aber eine narrative Struktur zu finden, die einen zweistündigen Film trägt und mir die Möglichkeit gibt, innerhalb dieser Struktur die Dinge zu verhandeln, die mich interessierten, wie Maskulinität oder der weibliche Blick darauf.

„Filme kosten viel Geld. Sie kosten zu viel Geld, wenn man mich fragt.“

Erstmals haben Sie „The Bikeriders“ im Herbst 2023 in Telluride oder London gezeigt. Nun kommt er erst jetzt mit einiger Verzögerung in die Kinos. Hand aufs Herz: Hat es Sie zwischenzeitlich gejuckt, noch einmal Hand an den Film zu legen?

Jeff Nichols: Ich bereite mir jetzt ein paar Schwierigkeiten, weil Ruben Östlund bestimmt erfahren wird, dass ich das Folgende gesagt habe, und er wird mich zur Rede stellen. Aber egal, ich sage es jetzt einfach. Ich war 2022 Teil der Jury des Festival de Cannes, und wir gaben Rubens „Triangle of Sadness“ die Goldene Palme. Für uns war das, was wir gesehen haben, der beste Film. Der Preis ist eine große Sache, wenn Sie mich fragen, aber Ruben hatte tatsächlich die Chuzpe, den Preis anzunehmen, und fügte danach noch einmal 15 Minuten zu dem Film hinzu. Moment mal, sage ich. Das macht man nicht! Wir haben einer anderen Version den Preis gegeben! Man fügt ja auch keine Walkie-Talkies zu „E.T.“ hinzu. Man verändert nicht das Ende von „Unheimliche Begegnung der dritten Art“. Ich finde das nicht richtig. Das ist unanständig. Oder um Ihre Frage zu beantworten: Nein. Ich bin sehr stolz auf „The Bikeriders“. Das ist der Film, egal, was die Welt von ihm halten oder über ihn sagen mag. 

„The Bikeriders“ ist ein Film, wie er heute in den USA nicht mehr oft gemacht wird. Viele Feinheiten, viele graue Flächen. Um ihn machen zu können: Haben Sie das Projekt als das gepitcht, was Sie wirklich machen wollten? Oder haben Sie als trojanische Pferd einen Badass-Bikerfilm gepitcht?

Jeff Nichols: Sie werden lachen. Ich habe ihn überhaupt nicht gepitcht. Ich habe das fertige Drehbuch an eine Company geschickt, New Regency. Sie haben Ja gesagt. Ich habe es noch nie so leichtgehabt, einen Film finanziert zu bekommen. Ich weiß natürlich nicht, was New Regency in dem Stoff gesehen hat, vielleicht ja tatsächlich einen Badass-Bikerfilm, der in „The Bikeriders“ durchaus auch drinsteckt. Wer weiß? Das müssten Sie dort anfragen. Ich schätze mich einfach glücklich, New Regency an Bord gehabt zu haben. Ebenso schätze ich mich glücklich, dass Focus Features und Universal ihn vermarkten und in die Kinos bringen. Für den Trailer haben sie ein Maximum an Bikerfilm rausgeholt. Wenn ich mich richtig erinnere, dann fallen im gesamten Film zwei Schüsse. Die hört man im Trailer sechsmal! Aber das passt schon… Whatever it takes… Richtig? 

Als Filmemacher wirken Sie aus der Zeit gefallen, ein quintessenziell amerikanischer Filmemacher, der in einer anderen Ära mehr geschätzt worden wäre. Können Sie denn die Filme machen, die Sie wirklich machen wollen?

Jeff Nichols: So weit, so gut. Ich habe mich bisher nicht verbiegen müssen. Es ist niemals einfach, einen Film gemacht zu bekommen. Filme kosten viel Geld. Sie kosten zu viel Geld, wenn man mich fragt. Dieser Teil des Filmemachens sagt mir nicht zu. Ich wünschte, ich arbeitete in einem Medium, das nicht so kostspielig ist. Ich empfinde es als Bürde zu wissen, wie teuer ein Film ist. Das erhöht den Druck. Das ist nicht gut für Kunst. Das ist nicht gut für Ausdruck. Ich sage das augenzwinkernd: Ich bin gerade erfolglos genug, um diese Karriere haben zu können. Wenn ich nur etwas erfolgreicher gewesen wäre, wäre ich vielleicht vom Studiosystem absorbiert worden zu einer Zeit, in der ich nicht damit hätte umgehen können. Wer weiß, ob ich das jemals könnte. Seit sechs Jahren arbeite ich an einem sehr großen Science-Fiction-Film, und da macht man es mir sehr schwer, weil es um viel Geld geht und man an einem Punkt mit Leuten reden muss, die gerne mitreden wollen, wenn sie investieren sollen. Na, ich klopfe auf Holz und bin zuversichtlich, dass es klappen wird, so wie ich es mir vorstelle. Ich fühle mich sehr privilegiert. Ich stehe hinter jedem einzelnen Film, den ich gemacht habe. Ist das nicht großartig? Wer kann das schon von sich behaupten?

Das Gespräch führte Thomas Schultze.