Login

Anne Ballschmieter: „Geschichten von unsichtbaren Frauen auffällig“

Die künstlerische Leiterin des wichtigen First-Steps-Nachwuchspreises, Anne Ballschmieter, hat anlässlich des Nominierten-Tages mit SPOT über Themen und Problemstellungen junger Kreativer wie der fehlenden Work-Life-Balance beim Dreh gesprochen.

Anne Ballschmieter
Anne Ballschmieter ist die künstlerische Leiterin bei First Steps (Credit: Florian Liedel/First Steps)

Das SPOT-Interview mit Anne Ballschmieter fand anlässlich des traditionellen Nominierten-Tages von First Steps am 26. August statt. First Steps gibt es seit 1999 und gilt als renommiertester Preis für Abschlussfilme aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Dabei ist es nicht nur ein Preis, sondern auch ein breiteres Rahmenprogramm, das die Talente mit der Branche verknüpft.

Mit dem heutigen Nominierten-Tag ist eine wichtige Etappe im First-Steps-Kalender erreicht. Wie ist Ihre aktuelle Gemütslage, Frau Ballschmieter?

Anne Ballschmieter: Sehr aufgeregt und glücklich. Es ist eine schöne Gemütslage, weil für uns offiziell die heiße Phase beginnt, in der wir öffentlich mit all den wunderbaren nominierten Filmschaffenden reden können und es nicht mehr im Team unter uns behalten müssen. Jetzt können wir mit der ganzen Welt die Filmperlen und die jungen Filmemacher:innen feiern.

Was sind gerade Themen, die bei den jungen Filmschaffenden besonders für Gesprächsstoff sorgen?

Anne Ballschmieter: In den vergangenen zwei Jahren ist das Thema familienfreundliches Drehen besonders auffällig, was sich in diesem Jahr eher noch verstärkt hat. Wobei wir familienfreundlich nicht nur im Hinblick auf die Familie mit Kindern, sondern weitergefasst auf jedes Konstrukt sehen, in dem die Menschen gerne zusammenleben wollen. Es geht darum, die Work-Life-Balance wiederherzustellen. Wie können Dreharbeiten aus dieser Sackgasse rauskommen, dass man sich drei Monate komplett von der Umwelt abschottet? Der Dreh ist ein Teil des Lebens, aber der andere Teil des Lebens soll trotzdem weiter funktionieren. Dieses große Anliegen findet sich sowohl in den Filmen als auch in der Umsetzung der Filme dieses Jahrgangs wieder. Bei dem Thema stellen wir in der Branche fest, dass sich noch nicht so viel bewegt, wie wir es uns wünschen. Es gibt einige großartige Menschen, die das Ganze schon so handhaben. Aber die jungen Filmschaffenden haben noch eine große Aufgabe vor sich, wenn wir sie jetzt auf die Branche loslassen.

Dass Drehs nicht mehr so recht mit der modernen Denkweise von jungen Filmschaffenden vereinbar sind, ist schon länger als Problem in der Welt.

Anne Ballschmieter: Ja, da gibt es noch viele Reibungspunkte. Es wäre falsch zu sagen, dass sich nichts bewegt. Aktuell ist die Branche auch generell im Umbruch durch die MeToo-Debatte, neue Arbeitsmodelle oder das neue Filmförderungsgesetz. Wenn jetzt die jungen Kreativen mit der Forderung kommen, ein Vier-Tage-Woche haben zu wollen oder der Dreh an realistische Acht-Stunden-Tage angepasst werden sollen, dann sind das viele Problemstellungen, denen man sich widmen muss. Es braucht Zeit, Mut und Durchhaltevermögen auf allen Seiten, um das Thema immer wieder in die Branche zu tragen, wie man arbeiten will. Das bedeutet nicht, dass alle immer glücklich sind, sondern das wird im Prozess auch manchmal schmerzen.

Vena
Emma Nova im dreifach für First Steps nominierten Spielfilm „Vena“ (Credit: Neue Bioskop-Film/Lisa Jilg)

Sie haben schon angedeutet, dass sich die thematisierte Haltung auch in den nominierten Arbeiten des First Steps Award spiegeln? Welche Beobachtungen gibt es noch zum aktuellen Jahrgang?

Anne Ballschmieter: Wie jedes Jahr sind es Geschichten, die im eigenen Umfeld stattfinden. Da wir ein sehr internationales Teilnehmer:innenfeld haben, beschränkt sich das Ganze nicht nur auf die innerdeutschen Grenzen, sondern wir gehen über die Ländergrenzen hinaus. Es sind immer sehr persönliche Geschichten. Was in diesem Jahr auffällt, sind Geschichten von unsichtbaren Frauen, die in verschiedenen Lebenssituationen reflektiert werden: Welche Erwartungen werden an Frauen herangetragen, wie haben sich Frauen in gewissen Situationen zu verhalten? Wie dabei die eigenen Bedürfnisse und die eigene Sprache verschwindet, wird vielfach auf unterschiedliche Weise und treffend geschildert in Werken wie zum Beispiel in „And the Wind Weeps“ von Aulona Selmani, Hanieh Bozorgnias „Bitter“, Thomas Marcianos „Echo“ oder „Vena“ von Chiara Fleischhacker. Das ist vor allem inszenatorisch so gut gemacht, dass man teils erst spät merkt, um was es eigentlich in der Geschichte gegangen ist und das Thema einen dann umso mehr trifft. In der Breite hatten wir dieses Thema in den vergangenen Jahren noch nicht. Wir haben auch viele Geschichten mit und über Geflüchtete wie den Dokumentarfilm „The Girl Who Ride Dragons“ von Peyman Ghalambor: Was das für die Menschen und vor allem Kinder bedeutet, wenn sie nach Deutschland kommen und in Asylunterkünften leben müssen. Was haben sie für eine reelle Chance, hier in der Gesellschaft anzukommen? Aber es ist immer ein liebevoller Blick auf Augenhöhe und völlig klischeefrei zu beiden Seiten.

Anna – A Tale for Tomorrow
Der nominierte Sci-Fi-Film „Anna – A Tale for Tomorrow“ (Credit: Philip Müller)

Gibt es weitere prägende Themen?

Anne Ballschmieter: Wir haben Filme wie „Yumi – The Whole World” von Maximilian Köhler oder „Bis hierhin und wie weiter?“ von Felix Maria Bühler, die sich auf unterschiedliche Weise mit der aktuellen Klimakrise und vor allem den jungen Menschen beschäftigen, die dagegen kämpfen. „Anna – A Tale of Tomorrow” von Jonathan B. Behr ist ein Sci-Fi-Film, der sich mit den Folgen der Klimakrise beschäftigt. Wir haben eine unglaubliche Formatvielfalt und sehr viele ganz unterschiedliche Animationsfilme, die sich nicht nur thematisch, sondern in ihrer Machart und dem Stil unterscheiden. Mit „Bite Back“ von Samuel Gheist haben wir bei den Drehbüchern einen Serien-Piloten dabei. Es gibt viele hybride Formate wie „Fire Drill“, für dessen Bildgestaltung Marco Müller nominiert ist, die halbdokumentarisch und halbfiktional sind.

Spüren und sehen Sie beim Blick auf aktuelle deutsche Serien und Filme auch den Einfluss von First Steps und Ihrer Arbeit als künstlerische Leiterin in den vergangenen Jahren?

Anne Ballschmieter: Ich finde schon. Die Filmschaffenden brauchen Zeit, um in der Branche Fuß zu fassen. Aber man findet die Themen wieder und merkt vor allem in der Besetzung vor und hinter der Kamera, dass sich etwas bewegt und alles diverser wird. Es gibt mehr Verständnis dafür, welche Perspektiven eigentlich erzählt werden. Und es wird häufiger die Frage gestellt, ob das jetzt die eigene Perspektive ist oder ob ich mir lieber noch jemanden dazuhole, der mich bei dieser Perspektive unterstützt, sie zu erzählen. Es gibt mehr Selbstverständnis, wie und mit wem heute Geschichten erzählt werden.

Bei First Steps gab es jetzt einige Zeit eine Doppelspitze zusammen mit Ihnen und Jennifer Stahl. Dann ging Frau Stahl und Toby Ashraf kam hinzu, ist jetzt aber auch schon nicht mehr da.

Anne Ballschmieter: Mit Jennifer Stahl und mir gab es über drei Jahre eine verlässliche Konstante bei First Steps. Toby Ashraf hatte sich dann im Herbst letzten Jahres entschieden, einen anderen Weg einzuschlagen. Wir haben daraufhin komplett umstrukturiert. Und mit Henriette Brinkmann haben wir nun eine wunderbare Kollegin, welche die Projektkoordination übernimmt und sich um die Rahmenprogrammpunkte kümmert. So kann ich mich gerade inhaltlich vollumfänglich auf die Konzeption von First Steps konzentrieren. Wir sind eben nicht nur die Preisverleihung, sondern sehen uns ebenso als Plattform für Themen von Filmschaffenden über das gesamte Jahr hinweg.

Das Interview führte Michael Müller