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REVIEW KINO: „May December“

Vielschichtiges, immer wieder durch Spiegel gedrehtes Melodram über eine Schauspielerin, die für Recherchen das reale Vorbild für ihre Rolle besucht. 

CREDITS:
O-Titel: May December; Land/Jahr: USA 2023; Laufzeit: 117 Minuten; Regie: Todd Haynes; Drehbuch: Samy Burch, Alex Mechanik; Besetzung: Natalie Portman, Julianne Moore, Charles Melton, Andrea Frankle, Gabriel Chung; Verleih: Wild Bunch; Start: 6. Juni 2024 

REVIEW:
„Sogar die größten Stars entdecken sich selbst im Spiegelglas.“

Als der neue Film von Todd Haynes Weltpremiere auf dem letztjährigen Festival de Cannes feierte, wurde er wohlwollend aufgenommen vom Fachpublikum. Warmer Applaus. Gesprochen wurde aber über die anderen Schwergewichte des starken Jahrgangs. Bis im Herbst eine regelrechte „May December“-Manie ausbrach unter der amerikanischen Filmkritik. Vielleicht hatte sich der Film einfach mal setzen müssen, bis sein Gift wirkte. Und man sich zwischenzeitlich sogar Charles Melton als potenziellen Oscargewinner vorstellen konnte (er dann allerdings gar nicht erst nominiert wurde). Aber es stimmt schon, „May December“ hat etwas, das sich festhakt, das in einem weiterarbeitet. Vielleicht auch, weil Natalie Portman und Julianne Moore in den Hauptrollen gemeinsam vor der Kamera das beste Aufeinandertreffen zweier Diven ist, seitdem Joanne Crawford und Bette Davis die Krallen aneinander wetzten.

Was sehen Natalie Portman und Julianne Moore, wenn sie einander in die Augen blicken (Credit: Wild Bunch)

„Sogar die größten Stars finden sich selbst im Spiegelglas.“

Der Film ist wie ein Schlendern durch einen Spiegelsaal, wurde von Haynes‘ Kameramann Christopher Blauvelt entsprechend immer wieder durch Spiegel gedreht oder sieht den Schauspielerinnen zu, wie sie sich im Spiegel ansehen. Um Wahrheit und Zerrbilder geht es, um das, was man sieht, und das, was man gerne sehen würde. Zur Vorbereitung auf eine Rolle besucht die Hollywood-Schauspielerin Elisabeth eine Familie, die 20 Jahre früher landesweit für Schlagzeilen gesorgt hatte: Mit 36 Jahren hatte Gracie den 13-jährigen Joe verführt und war dafür ins Gefängnis gegangen. Nun ist es Joe, der 36 Jahre alt und immer noch mit Gracie zusammen ist. Ihre drei Kinder sind erwachsen und drängen aus dem Zuhause. Jetzt werden alte Wunden aufgerissen und verdrängte Erinnerungen heraufbeschworen, weil die Geschichte ihres Skandals verfilmt werden soll und Elisabeth zur Recherche angereist gekommen ist. 

„Sogar die größten Stars mögen sich nicht im Spiegelglas.“

Mit modernen Bildern werden klassische Melos eines Sirk oder Minnelli evoziert, prallen satte Motive des Camp auf Bergmans „Persona“, klassisches Hollywood auf stranges europäisches Kunstkino, beginnen die Figuren und Persönlichkeiten zu überlappen, sich die Realität in der Fiktion und umgekehrt zu verlieren. Der Künstler lebt im Spiegel, mit dem Echo seines Selbst. Und dann spielt auch alles noch in Georgia, Savannah, eine Stadt in den Südstaaten, die mit jeder Faser nach „Drama, Baby“ zu schreien scheint, Tennessee Williams, Southern Gothic, schwüle Hitze, verlaufendes Makeup, entgleitende Mimik. Aber alles immer elegant und natürlich, wie Gegenentwürfe zu Todd Haynes‘ stilisierten Meisterwerken „Dem Himmel so fern“ und „Carol“, mehr wie ein modernes Update von „Safe“, ebenfalls mit Julianne Moore in der Hauptrolle. Und alles ist immer ein Spiel, bei dem sich die beiden Hauptfiguren umschleichen, immer genau abwägen, was sie der anderen von sich zeigen. Und von außen steuert die Regie das Geschehen und auf ein Trümmerfeld zu. Endstation? Sehnsucht, was sonst?

„Sogar die größten Stars verändern sich im Spiegelglas.“

Es wäre kein Film von Todd Haynes, wenn hinter der scheinenden Oberfläche nicht eine Geschichte stecken würde, die sich mit existenziellen Dingen auseinandersetzt. Nach den beiden enttäuschenden Spielfilmen „Wonderstruck“ und „Vergiftete Wahrheit“ hatte der Regisseur zuletzt mit seiner Doku über Velvet Underground angedeutet, dass die Durstrecke vorbei ist. Das untersteicht er jetzt mit einem Film, der wie eine Antwort auf die jüngsten Filme von François Ozon wirkt. Und immer seine Stars strahlen lässt, wobei der Film am Ende Charles Melton gehört, der erstaunliches leistet mit einer unmöglich zu spielenden Rolle. Wie soll man das rüberbringen, einen jungen Mann zu spielen, dem die Jugend gestohlen wurde, weil er eine Familie großziehen musste? Und dann kommt die geniale letzte Pointe des feinfühligen Drehbuchs von Samy Burch und Alex Mechanik: Wir sehen das Ergebnis. Und jeder kann sich fragen: War es das wert?

Thomas Schultze