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REVIEW KINO: „Evil Does Not Exist”

Trügerisch meditatives Drama von Oscargewinner Ryûsuke Hamaguchi über eine kleine japanische Gemeinde, die sich gegen ein geplantes Glamping-Ressort in ihrem Wald zur Wehr setzt. 

CREDITS:
O-Titel: Aku wa Sonzai Shinai; Land/Jahr: Japan 2023; Laufzeit: 90 Minuten; Drehbuch & Regie: Ryûsuke Hamaguchi; Besetzung: Hitoshi Omika, Ryo Nishikawa, Ryuji Kosaka, Ayaka Shibutani, Hazuki Kikuchi, Hiroyuki Miura; Verleih: Pandora Film; Start: 18. April 2024 

REVIEW: 
Wenn Ryûsuke Hamaguchi einen neuen Film vorlegt, dann heißt es aufgemerkt. Das wissen aufmerksame Cineasten nicht erst seit seiner endlos innovativen Murakami-Adaption „Drive My Car“, die 2021 nur wenige Monate nach seinem nicht minder beeindruckenden „Glücksrad“ (Großer Preis der Jury der Berlinale) erschien, in Cannes den Drehbuchpreis gewann und später dann den Oscar als bester internationaler Film entgegen nehmen durfte, aber spätestens seit diesem beeindruckenden Doppelschlag. „Evil Does Not Exist“ ist eine ganz andere Arbeit – es war nicht einmal bekannt, dass der japanische Filmemacher den Film gedreht hatte, bis er von Alberto Barbera für den Wettbewerb der Mostra 2023 angekündigt wurde. Ein nur vermeintlich ganz simpler Stoff über eine kleine Gemeinde in der Provinz, eine Stunde von Tokio entfernt, die sich dagegen auflehnt, dass in ihren unberührten Wäldern eine Glamping-Anlage für reiche Touristen errichtet werden soll. 

Die Idylle ist trügerisch in „Evil Does Not Exist“ (Foto: Pandora Filmverleih)

Lange lässt Hamaguchi zu Beginn die Kamera durch den Wald streifen, den Blick nach oben gerichtet, Äste und Bäume ziehen vorbei an den Augen, Sonnenstrahlen fallen durch die Äste, eine Ouvertüre der unauffälligen Art, die gleich eine ganz eigene Stimmung erzeugt, meditativ und doch erdverbunden. So erlebt man im Anschluss dann auch die Bewohner der kleinen Gemeinde, um die es gehen wird, die Teil dieser unberührten Natur sind. Wenn erstmals eine Figur zu sehen ist in „Evil Does Not Exist“, ist sie Teil dieser Umgebung: Takumi füllt an einer Wasserstelle im Bach Plastikflaschen ab, ganz ruhig und geduldig. Zeit ist kein Maßstab. Dann geht er mit seiner Tochter durch den Wald, bringt ihr die Namen der Bäume bei, was ihre Funktion ist, welche man berühren kann, welche giftig sind. Alles hat seinen Platz in dieser Welt, die Menschen der Gemeinde sind eins mit ihr, unterstützen einander, helfen sich. Das Fremde kommt tatsächlich von außen. Der Tokioter Konzern Playmode hat ein Stück Land erworben und will dort ein Glamping-Ressort errichten, luxuriöses Camping für die Wohlhabenden, die dem Stress der Stadt entkommen wollen. In einer Townhall wollen zwei Angestellte für ihre Bestrebungen werben. Es sei doch gut für alle Bewohner, wenn mehr Geld in die Gemeinde käme. Die Menschen sehen indes nur die Probleme. Abwasser, Umweltverschmutzung, Zerstörung, das Ende des harmonischen Zusammenlebens. Es regt sich Widerstand. 

Die beiden Angestellten kehren zurück in die Gemeinde, um im Auftrag ihres Arbeitgebers den standhaftesten Opponenten Angebote zu machen, die sie nicht ablehnen können. In einer langen Einstellung sieht man die beiden im Auto auf dem Weg. Wie sie miteinander sprechen, ist überdeutlich, dass ihre Sympathien insgeheim den Dorfbewohnern gehören. Sie selbst überlegen, wie ein Leben auf dem Land für sie aussehen könnte. Ihre Intentionen mögen aufrecht sein, aber sie stellen sich ungeschickt an. Vorher hat man Takumi gesehen, wie er Holz hackt, mühelos, geschmeidig. Nun versucht sich einer der Angestellten daran. Was bei Takumi ein selbstverständlicher Vorgang ist, wirkt jetzt ungelenk, tollpatschig. Trotzdem behauptet er stolz, sich niemals so gut gefühlt zu haben. Seine Kollegin ist sich nicht sicher, wie gefährlich Rehe wohl sein können. Vielleicht bahnt sich ja tatsächlich so etwas an wie ein Happy-End.

Als Takumis Tochter von einem Spaziergang im Wald nicht zurückkehrt, wollen die beiden Fremden sich beweisen. Genial inszeniert der Filmemacher, was dann passiert, ein abrupter Ausbruch der Gewalt, in dieser Form völlig unerwartet. Aber alles ist ambivalent, unklar. Man weiß nicht, ob man seinen Augen trauen kann, ob das, was man gesehen zu haben glaubt, wirklich passiert ist. Und auf einmal, ganz am Ende, stellt der Film klar, dass er sich keinerlei Illusionen hingeben mag, auch wenn man das als Zuschauer kurz geglaubt haben mag: Die Natur ist nicht gut, das Wesen des Menschen hat abgründige Seiten. „Evil Does Not Exist“ mag sich nicht so strecken wie „Drive My Car“. Und doch ist es unverkennbar das Werk eines Meisters, der Etüden mit ebenso großer Genialität komponiert wie seine Sinfonien. 

Thomas Schultze