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„You have to protect the process“: Viel Bewegung bei Ingo Fliess und if… Productions

Bei Ingo Fliess sind die Ärmel hochgekrempelt, schließlich hat er dieses Jahr gleich drei Spielfilme und zwei Dokumentarfilme in Produktion. „So viel wie noch nie“, sagt der Produzent. Ein Blick auf die neuen Projekte, seine kreativen Partnerschaften mit Filmschaffenden wie İlker Çatak und Oliver Haffner, schwierige Diskussionen im Oscar-Auswahlkomitee und die Freude, an der HFF München lehren zu dürfen.

Ingo Fliess (Credit: if… Productions/Ella Knorz)

Mit seiner 2007 gegründeten Produktionsfirma if… Productions steht Ingo Fliess für Produktionen mit besonderer Handschrift, Produktionen, bei denen die Relevanz und der Inhalt im Vordergrund stehen. Für den Produzenten zählt, dass die kreativen Talente, mit denen er gerne langfristig zusammenarbeitet, etwas Besonderes schaffen können, sich nicht auf ein Schema zurückziehen und einfach nur Konventionen bedienen. Dafür braucht es einerseits Zeit, andererseits eine große gedankliche Freiheit. Fliess schafft die Rahmenbedingungen, um diese Parameter zu gewährleisten, wobei das wichtigste Fundament die Einigkeit über das Projekt ist. 

Bestes Beispiel ist die kreative Partnerschaft mit İlker Çatak, die mit dem hochgelobten „Es gilt das gesprochene Wort“ aus dem Jahr 2019 begann, bei „Das Lehrerzimmer“ in einer Oscarnominierung gipfelte und nun mit „Gelbe Briefe“ weitergeführt wird. Eine fruchtbare kreative Symbiose besteht auch mit Oliver Haffner, dessen Filmarbeiten Fliess seit dessen Spielfilmdebüt „Mein Leben im Off“ aus dem Jahr 2010 begleitet. Aktuell entsteht das Hans-Rosenthal-Biopic „Rosenthal“ als Koproduktion mit dem ZDF, das 2025, zum 100. Geburtstag der Showmaster-Legende, zur Ausstrahlung kommen soll. 

„Oliver Haffner und ich haben schon lange Jahre darüber nachgedacht, wie man einen Film über Hans Rosenthal erzählen könnte“, so Fliess. Allerdings habe immer der Clou gefehlt, wie man die beiden Leben von Rosenthal miteinander verbinden könnte. Erst mit Regina Schillings Dokumentarfilm „Kulenkampffs Schuhe“ sei der Groschen bei Oliver Haffner gefallen, der schließlich die Idee hatte, das Jahr 1978 als Dreh- und Angelpunkt des Rosenthal-Biopics zu nehmen: Die 75. Ausgabe von „Dalli Dalli“ steht an. Ein Grund zu feiern, wenn das Sendedatum nicht gerade auf den 9. November fallen würde, als 40 Jahre zuvor in Deutschland die antisemitischen Pogrome stattgefunden haben. Für Rosenthal, der als jüdischer Jugendlicher im Nazi-Deutschland zwei Jahre lang untertauchen und mitansehen musste, wie nach dem Tod seiner Eltern sein zehnjähriger Bruder deportiert und erschossen wurde, ein moralisches Dilemma. 

„Die bewährte Konstellation war uns allen wichtig.“

Ingo Fliess

Für das Drehbuch holten sich Haffner und Fliess Gernot Krää an Bord, mit dem sie bereits erfolgreich bei „Wackersdorf“ zusammengearbeitet hatten. „Diese bewährte Konstellation war uns allen wichtig“, so Fliess. Inhaltlich war es dem kreativen Trio ein Anliegen, über diese Zeit des Mehltaus in der ehemaligen Bundesrepublik zu erzählen. „Mit dem Dritten Reich wollte man sich gar nicht mehr groß beschäftigen. Man wundert sich schon, dass die Bundesregierung erst 1978 zum ersten Mal einen offiziellen Gedenktag zur Reichspogromnacht abhielt. Vorher war das eine Angelegenheit der jüdischen Gemeinden. Nach Fritz Bauer war die Sache offiziell erledigt“, so Fliess. Gearbeitet wird an dem TV-Biopic, in dem Florian Lukas die Hauptrolle spielt, mit der gleichen Sorgfalt und Akribie wie bei den Kinostoffen aus dem Hause if…. Die letzte Klappe fiel vor kurzem an der Ostsee. 

Drehschluss von „Rosenthal“ (v.l.): Esther Hechenberger (Redakteurin ZDF), Ingo Fliess (Produzent), Dorothee Erpenstein (GF FFF Bayern), Florian Lukas (Darsteller Hans Rosenthal), Gernot Krää (Autor) (Credit: ZDF/if… Productions/Ella Knorz)

Bereits Anfang Juli wurde Drehschluss von İlker Çataks „Gelbe Briefe“ verkündet, bei dem wie schon bei „Das Lehrerzimmer“ Alamode wieder Verleihpartner ist. Nach dem unglaublichen Run von „Das Lehrerzimmer“, der neben besagter Oscarnominierung als Best International Feature in fünf Deutschen Filmpreisen gipfelte, stapeln sich die Stoffe auf dem Schreibtisch von Ingo Fliess. „Ich bekomme wesentlich mehr zugeschickt“, sagt der Produzent. „Allerdings halte ich mich an den guten Rat eines amerikanischen Managers, den ich nach der Oscarnominierung fragte, wie ich mit der veränderten Situation umgehen soll. Er sagte: ‚You have to protect the process.‘ Beschütze den Prozess, der dich dorthin gebracht hat, wo du jetzt bist. Das habe ich mir zu Herzen genommen.“ 

Deshalb hat sich bei Fliess operativ kaum etwas geändert. Seine unabhängige Manufaktur ist bis auf eine neue Teamassistenz und den/die ein oder andere/n junge/n Producer/in, die projektweise angestellt wird, nicht gewachsen. Bereits vor und während des Oscars (Fliess: „Man glaubt gar nicht, wie viel Arbeit in so einem Oscarcampaigning steckt – das ist wie ein eigenes Filmprojekt!“) hat sich if… Productions voll und ganz auf die Vorbereitung von drei Spiel- und zwei Dokumentarfilmen konzentriert, die dieses Jahr in Dreh gegangen sind bzw. noch in Dreh gehen werden. „Der Workload bei if… ist aktuell so hoch, wie noch nie. Wobei diese Tatsache in keinem Kausalzusammenhang mit der Oscarnominierung von ‚Das Lehrerzimmer‘ steht. Das hat sich einfach so ergeben.“ 

Am Set von „Gelbe Briefe“ (v.l.): İpek Bilgin (Darstellerin „Frau Güngör“), Enis Köstepen (Co-Autor und Co-Produzent), Leyla Cabas (Darstellerin „Ezgi“), İlker Çatak (Drehbuch & Regie), Özgü Namal (Hauptdarstellerin „Derya“), Judith Kaufmann (Bildgestaltung), Tansu Biçer (Hauptdarsteller „Aziz“), Ingo Fliess (Produzent) (Credit: if… Productions Film GmbH / Ella Knorz)

Gleichzeitig räumt Fliess ein, dass Çataks „Gelbe Briefe“ im Kielwasser der Berlinale 2023 etwas leichter zu finanzieren gewesen sei. „Ich habe dort viele Zusagen bekommen für ein Projekt, das bis dahin als nicht finanzierbar galt. Insofern hat die allgemeine Begeisterung, die ‚Das Lehrerzimmer‘ hervorrief, schon geholfen.“ Warum galt der neue Film von İlker Çatak als nicht finanzierbar? „Als eine türkische Geschichte mit komplett türkischem Cast hatten wir es nicht leicht. Viele sahen darin eine gewisse Distanz. Wir hatten ursprünglich überlegt, in der Türkei zu drehen, was aber nur zu einem bestimmten Ausmaß geht, wenn man mit deutschem Geld arbeitet. Türkisches Geld zu bekommen, war für einen so systemkritischen Stoff nicht vorstellbar. Unser türkischer Koproduzent hatte dann die kluge Idee, den Film ins Exil zu schicken, die gleiche Geschichte in Deutschland zu erzählen mit Berlin als Ankara und Hamburg als Istanbul. So ist der Knoten geplatzt. Mit dem Oscarrückenwind haben wir die Finanzierungsbausteine mühelos bekommen, die man für einen Dreh in Deutschland brauchte.“ 

„Die Commercial-Arthouse-Welt wartet auf İlkers neuen Film.“

Ingo Fliess

Aus dem kleinen türkischen unabhängigen Film ist laut Fliess eine relativ große deutsch-französische Koproduktion geworden mit Beteiligung der türkischen Produzenten, aber ohne türkisches Geld. „Gelbe Briefe“ sei nämlich viel mehr als ein Film über die politische Situation in der Türkei. „Das mag der Ausgangspunkt sein. Aber ‚Gelbe Briefe‘ ist in erster Linie ein Film über die Erosion des Privaten durch staatliche Willkür“, so Fliess. Deshalb könne die Story gedanklich an vielen Ecken der Welt spielen. „So haben wir ihn auch gemacht, mit einer gewissen Abstraktion. Der Gedanke des Exils hat sehr geholfen.“

Positiv wertet Ingo Fliess die Tatsache, dass er im Oscartrubel gar nicht viel Zeit zum Nachdenken hatte. „Es lagen bereits die Aufgaben vor uns, die wir zu meistern hatten. Drei Spielfilme und zwei Dokumentarfilme in einem Jahr – das gab es bis dato noch nicht bei if…“ Bei den Spielfilmen handelt es sich neben „Gelbe Briefe“ und dem Rosenthal-Biopic noch um „Leibniz“, dem neuen Film der 91-jährigen Filmemacherlegende Edgar Reitz, den if… Productions mit Reitz‘ Produktionsfirma koproduziert. Bei den Dokumentarfilmen um „Turning Point“ von Friedrich Rackwitz und „Game Over“ von Jörg Adolph

Gerade mit Blick auf die neue Arbeit von İlker Çatak sei der Druck gestiegen. „Man darf nicht vergessen, dass İlker zur Berlinale 2023 international gesehen ein unbekannter Regisseur war. Das hat sich komplett geändert. Jetzt wartet die Commercial-Arthouse-Welt auf seinen neuen Film. Das spüren wir – auch übrigens, was die Pre-Sales auf Drehbuchbasis betreffen. Für uns ist das nicht gerade leichter, weil man nun eine Erwartung erfüllen muss. ‚Das Lehrerzimmer‘ hat die Latte hochgelegt. ‚Gelbe Briefe’ ist äußerlich betrachtet zwar ein komplett anderer Film. Trotzdem hat er alle Qualitäten, die auch ‚Das Lehrerzimmer‘ hat in Bezug auf Spannung, Dichte und Storytelling“, so Fliess. 

İlker Çatak und Leonie Benesch bei der Oscarverleihung 2024 (Credit: IMAGO / Future Image)

An der guten kreativen Partnerschaft zwischen dem Filmemacher und dem Produzenten hat auch der Oscartrubel nichts zerstört. Vielmehr sei sie sogar gefestigt worden. „Wir sind beide gut darin, Misserfolge abzuschütteln. Das hat uns durch viele schwierige Situationen gebracht. ‚Das Lehrerzimmer‘ war keineswegs mühelos zu finanzieren, und als wir fertig waren, wollte ihn bekanntlich zunächst niemand haben. So was schweißt zusammen. Zusammen feiern ist ja easy. Aber gemeinsam Rückschläge verdauen nicht. İlker und ich teilen die gleichen Werte. Unsere Beziehung ist unheimlich gewachsen. Durch die Misserfolge, nicht durch die Erfolge. Die Erfolge waren toll. Wie ein Märchen. Oscarnominierung und fünf Deutsche Filmpreise…“

„Wenn ein Film wie der von Mohammad Rasoulof für Deutschland in Frage kommt, sehe ich das positiv. Die Welt verändert sich, unsere deutsche Filmwelt verändert sich.“

Ingo Fliess

Stichwort Oscar: Dieses Jahr zählte Ingo Fliess zum Auswahlkomitee für den diesjährigen deutschen Oscarkandidat. Was war das für eine Erfahrung? „Wir hatten eine schwierige Diskussion. Am Ende war es aber eine einmütige Entscheidung, Mohammad Rasoulofs Film zu schicken. Aber es ist durchaus hart. Natürlich denkt man, dass es schön wäre, einen Film mit stärkerer einheimischer Prägung zu schicken, der dann auf diesem Weg, den ich ja nun erlebt habe, Chancen gehabt hätte. Dann kommt aber ein Film wie ‚Die Saat des heiligen Feigenbaums‘, der einen total umhaut, was Kinematografie, Storytelling und politisches Bewusstsein angeht und der alle Kriterien erfüllt. Das kann man nicht ignorieren. Er war der Film, den wir am meisten gefeiert haben. Es tut mir auch Leid um die deutschsprachigen Beiträge, von denen auch starke dabei waren. Es war eine schwierige Situation. Aber die Frage muss lauten: Was ist die Intention bei der International-Feature-Competition der Oscars? Wenn ein Film wie der von Mohammad Rasoulof für Deutschland in Frage kommt, sehe ich das positiv. Die Welt verändert sich, unsere deutsche Filmwelt verändert sich ebenfalls. Wir werden internationaler, wir sind ein Hort der Freiheit, die wir verteidigen müssen. Dass der Film auf unserem Ticket zu den Oscars reisen kann, erfüllt mich mit großem Stolz.“

Positiv und mit Stolz erfüllt Ingo Fliess auch die Tatsache, dass er im August neben Corinna Mehner die Vizepräsidentschaft der HFF München angetreten hat. Die beiden teilten sich seit Anfang 2023 bereits die Leitung des Studiengangs Produktion & Medienwirtschaft der renommierten Ausbildungsschmiede. „Dass ich überhaupt an der HFF bin, bedeutet mir sehr viel. So habe ich die Möglichkeit, meine Herangehensweise als Produzent, der für mich ein gestaltender und mitdenkender Partner in Crime ist, an eine nachwachsende Generation weiterzugeben. Es ist toll und befriedigend, dieses Amt mit Corinna ausführen zu dürfen. Und es ist nur konsequent, dass wir auch in die Hochschulleitung gegangen sind, wo aktuell viele wichtige Weichen gestellt werden und die Umstellung auf Bachelor und Master stattfindet. Ich finde es besser, man ist dort, wo Gestaltung stattfindet, als nur am Rand zu stehen. Deshalb habe ich mich gerne dazu bereit erklärt, hier als Vizepräsident tatsächlich mitzuhelfen.“

Die beiden neuen Vizepräsidenten der HFF München: Ingo Fliess und Corinna Mehner
(Credit: HFF München)

Gestalten und mithelfen steht auch über allen Projekten, die Fliess mit seiner if… anpackt. „Am Ende ist es die Qualität des Drehbuchs, mit der alles steht und fällt. Genau da muss man als Produzent weiter dranbleiben, hartnäckig bleiben in der Entwicklung und nach Stoffen suchen, die originell sind und sich dramatisch erzählen lassen. Film ist eine dramatische, keine literarische Erzählkunst. Solche Stoffe fallen nicht vom Himmel. Die muss man machen, mutig machen, mit originellen Erzählansätzen, indem man Autor:innen vertraut. Wir müssen uns alle an der eigenen Nase fassen und uns mehr anstrengen, spannendere Filme zu erzählen. Für die wird man auch eine Finanzierung finden. Nicht mühelos, aber man wird den Sinn darin sehen…siehe ,Rosenthal’. Das Drehbuch von Gernot Krää ist sicherlich eines der besten, mit denen ich jemals zu tun hatte. Solche Filme lassen sich auch finanzieren, wenngleich es insgesamt schwieriger geworden ist und wir alle die Reform der Filmförderung herbeisehnen. Wenn die nicht zeitnah kommt, wird es echt haarig für die Branche.“

Barbara Schuster