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REVIEW TORONTO: „Der wilde Roboter“

Absolut hinreißendes Animationsabenteuer über einen gestrandeten Haushaltsroboter, der sich in der entlegenen Wildnis eines frisch geschlüpften Gänsekükens annehmen muss.

CREDITS:
O-Titel: The Wild Robot; Land / Jahr: USA 2024; Laufzeit: 101 Minuten; Regie & Drehbuch: Chris Sanders; Verleih: Universal; Start: 3. Oktober 2024

REVIEW:
Oft kommt es nicht vor, dafür ist es umso schöner, wenn es passiert, dass man bei der Sichtung eines Films merkt, dass man gerade Zeuge von etwas Besonderem ist, dass hier eine Produktion ihre eigene Maßgabe als Unterhaltungskino für ein großes Publikum hinter sich lässt und nach Höherem strebt, nach Transzendenz und Schönheit, nach zeitloser Kunst. Genau das ist „Der wilde Roboter“ gelungen, Chris Sanders’ für Dreamworks Animation entstandene Adaption der innovativen gleichnamigen Graphic Novel von Peter Brown, ein Instant-Meisterwerk, das in diesem Jahr herausragender Animationsfilme, von „Der Junge und der Reiher“ über „Robot Dreams“ hin zu „Alles steht Kopf 2“, noch einmal herausragt, Maßstäbe setzt, ausreizt, was überhaupt mach- und erzählbar ist in einem 100-minütigen Spielfilm: eine episches Survival-Abenteuer, in dem Roboter und Tiere alle Herausforderungen, Bedrohungen und Gefahren nur dann überleben kann, wenn sie über ihre Programmierung hinauswachsen und eine Familie formen, wie man sie in dieser Form noch nicht und generell selten emotional und intellektuell so überzeugend gesehen hat.

„Der wilde Roboter“ von Chris Sanders (Credit: Universal)

Aber auch in Chris Sanders’ Karriere voller herausragender Werke ist „Der wilde Roboter“ noch einmal extragut, eine Steigerung und Erfüllung eines Versprechens, das der 62-jährige Filmemacher seit seinem Debüt, „Lilo & Stitch“, entstanden für Disney im Jahr 2002, damals noch mit seinem langjährigen Kreativmitstreiter Dean DeBlois, immer wieder gibt: der Animationsfilm als Spielwiese unendlicher Imagination und Fantasie (wenn man es denken kann, kann man es auch zeichnen), der seine Möglichkeiten ausschöpft, um dem Wesen des Menschseines auf die Spur zu kommen: Wer sind wir? Wonach streben wir? Wonach sehen wir uns? Was definiert uns, macht uns zu Menschen? Das gelingt Sanders mit widerspenstigen Außerirdischen, Drachen mit gebrochenen Flügeln, tumben Steinzeitfamilien und nun, nach einem nur bedingt gelungenen Umweg zum Realfilm, mit einem Haushaltsroboter, der auf einer Insel strandet und dort feststellen muss, dass er mit seiner Programmierung nur bedingt erfolgreich sein wird. 

Nach „Lilo & Stitch“, „Drachenzähmen leicht gemacht“ und „Die Croods“ – drei Publikumserfolge, die mit ihren Geschichten über unverstandene Außenseiter immer schon ausgereizt haben, was die amerikanische Mainstream-Animation bedient – nun also „Der wilde Roboter“, der zu Beginn des Films nur „Roboter“ ist und nicht im Entferntesten auf die Idee kommen würde, „Wildheit“ könne ein Zustand sein, mit dem er in Verbindung gebracht wird. Denn Rozim 7134, kurz ROZ, im Original anrührend gesprochen von Oscargewinnerin Lupita Nyong’o, in der deutschen Fassung von Judith Rakers, ist nur auf eines programmiert: Sie soll Haushaltsdienste verrichten, schnell, effizient, unauffällig, sie ist dazu da, Befehle entgegenzunehmen. Auf die wilden Tieren auf der Insel, wo ihr Transportflugzeug gestrandet ist, kein Mensch weit und breit, wirkt sie indes wenig vertrauenswürdig. Sie haben entweder Angst vor ihr oder nehmen sie nicht ernst, was ROZ, wie einst ihr Verwandter bei Pixar, WALL•E, nicht davon abhält, frohgemut Wege zu finden, sich nützlich zu machen in einer Welt, die sie offenkundig nicht braucht und nichts mit ihr anfangen kann. 

„Der wilde Roboter“ von Chris Sanders (Credit: Universal)

Als ROZ bei einem Unfall eine Graugans tötet und nun dabei ist, wie deren Kleines schlüpft, ändert sich mit einem Schlag alles. Wie der findige Fuchs Fink, im Original gesprochen vom gegenwärtigen Mr. Überall Pedro Pascal, dem Roboter gegenüber anmerkt, werden kleine Küken geprägt von dem ersten Lebewesen, das sie in ihrem Leben sehen: Sie werden es als ihre Mutter ansehen. Fortan wird man als Zuschauer Zeuge, wie diese neue Aufgabe ROZ in einer Weise fordert, dass sie sich gezwungen sieht, erstmals eigene Entscheidungen zu treffen, wenn sie diese Aufgabe erfüllen will. Sie muss Brightbill, wie sie das Gänseküken tauft, beibringen zu essen, zu schwimmen und schließlich zu fliegen – und wie man überlebt in einer Welt, die angefüllt ist von Raubtieren und Jägern, nicht zuletzt der Fuchs, der ROZ’ engster Vertrauter und Freund wird. 

Chris Sanders und seine überragenden Animatoren erzählen das in Bildern, die ganz klar sind und über weite Strecken ohne Dialog auskommen. Unterstützt von einem verblüffenden, oscarwürdigen Score von Kris Bowers („Green Book“, „Die Farbe Lila“, „Bob Marley: One Love“), entfaltet sich die Geschichte mit selbstbewussten Schritten und einer klaren Agenda, wie man das Narrativ vorantreibt, zugleich aber die Zeichnung und Entwicklung der Figuren und der Themen vorantreibt. Der Film ist ein Wunderwerk an Effizienz, wirkt dabei immer süffig und erfüllend. Auf die klaren Linien von Roz trifft ein bisweilen unfertig, fast abstrakt wirkender Hintergrund: Technologie vs. Natur. Die natürlich fortlaufend weiter zusammenwachsen in dem Maße, in dem ROZ’ Äußeres immer stärker gezeichnet wird vom Leben in der Wildnis, von Verschleiß, Alterung und Abnutzung: Wenn ROZ an einem Schlüsselpunkt – der sich auch in den Trailern befindet, also kein Spoiler ist, wenngleich hier nicht verraten wird, was genau in diesem Moment passiert und was ihm vorausgegangen ist – proklamiert: „Ich bin ein WILDER ROBOTER“, dann ist das die Kulmination einer Entwicklung, die „Der wilde Roboter“ ganz feinfühlig und findungsreich verfolgt hat. Von vielen Gänsehautmomenten ist das derjenige, der am stärksten nachwirkt. Wenn eine Maschine, um „Terminator 2“ zu zitieren, in der Lage ist, den Wert des Lebens zu erkennen, vielleicht können wir das auch. 

Thomas Schultze