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REVIEW KINO: „Favoriten“

Eindringlicher Dokumentarfilm, der ohne zu pädagogisieren die Mängel des Schulsystems offenlegt: ein Plädoyer für Menschlichkeit.

CREDITS:
Land / Jahr: Österreich 2024; Laufzeit: 118 Minuten, Regie & Drehbuch: Ruth Beckermann; Verleih: Grandilm; Start: 19. September 2024

REVIEW:
Wien hat 23 Bezirke, auch Grätzeln genannt. Favoriten, im Süden der Stadt, ist der 10. Und der bevölkerungsreichste. Hier wohnen in etwa annähernd so viele Menschen wie in Linz, der drittgrößten Stadt des Landes. Ein weiteres Kennzeichen des ehemaligen Arbeiterbezirks ist der hohe Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund. Dieser spiegelt sich auch in den Schulen wider. So auch in der Volksschule Quellenstraße, der größten Grundschule Wiens, die sich die renommierte und vielfach preisgekrönte österreichische Dokumentarfilmemacherin Ruth Beckermann als Schauplatz ihres neuen Films „Favoriten“ ausgesucht hat. 

„Favoriten“ (Credit: Ruth Beckermann Filmproduktion)

Drei Jahre lang begleitete Beckermann, die nach „Mutzenbacher“ auch mit „Favoriten“ auf der Berlinale Weltpremiere feierte und dort den Friedensfilmpreis damit gewann, eine Klasse im Alter von sieben bis zehn Jahren und ihre Lehrerin, Frau Idiskut, die mit viel Herzblut, Aufopferung und Engagement die Kinder durch die Grundschulzeit begleitet. In Frau Idiskuts Klasse gibt es kein einziges Kind, das zwei deutschsprachige Eltern hat. Kein Sonder- sondern längst ein Regelfall. Die meisten Kinder sprechen zuhause kein Deutsch. Entsprechend hoch sind die Hürden, einem Unterricht auf Deutsch zu folgen, einen Unterricht auf Deutsch abzuhalten. 

Die Positivität der Lehrerin, ihre Gabe, auf jedes einzelne Kind einzugehen, es durch Höhen und Tiefen zu begleiten, jedem seine Stimme zu geben, fasziniert und packt. Man lacht, wenn die Jungs sich gegenseitig versuchen zu erklären, was Kultur ist, wenn Frau Idiskut mit den Kids Lockerungsübungen zu coolen Beats macht, oder ein Mädchen beim Gespräch über Berufswünsche klarmacht, niemals heiraten zu wollen. Man fiebert mit, wenn eine Schülerin beim Auf- und Abrunden einfach nicht weiß, wohin mit ihren Gedanken. Man weint, wenn man sieht, wie das Notensystem so gar nicht passen mag, einzelne Kids einen Heulkrampf bekommen, weil sie sich mit ihren Zeugnissen nicht nachhause trauen. Und erst recht, wenn deutlich wird, wie Personalmangel dazu führt, dass einzelne Angebote nicht stattfinden können und man als Lehrerin es sich eigentlich nicht erlauben kann, schwanger zu werden, weil es niemanden gibt, der die Klasse übernimmt. 

„Favoriten“ (Credit: Ruth Beckermann Filmproduktion)

Ruth Beckermann und ihr langjähriger Kameramann Johannes Hammel schaffen es, immer nah an den Kids dran zu sein, auf Augenhöhe. Schön ist dabei die Idee, den Kindern selbst Handys in die Hand zu geben, um sich zu filmen, ein Film im Film entsteht, bei dem die Kinder noch mal von einer ganz anderen Perspektive gezeigt werden. „Favoriten“ mag erscheinen wie ein Begleitfilm zu dem gar nicht so sehr unähnlichen „Herr Bachmann und seine Klasse“ von Maria Speth, steht aber als Film auf eigenen Beinen und zeigt auf, wie sehr sich die Gesellschaft verändert hat, vor allem, wie die Zukunft unserer Gesellschaft aussehen wird. Und wie sehr sich das Schulsystem eben nicht verändert hat und nach einer Reform schreit. Ein Film, der aber auch engagierte, positiv eingestellte Lehrer:innen wie Frau Idiskut feiert, die sich trotz aller durch die Politik verursachten Mängel nicht unterkriegen lassen und den Kindern stets ein tolles Vorbild zu sein versuchen. Letztendlich zählt Menschlichkeit. Auch im Schulapparat. Gerade im Schulapparat.

Barbara Schuster