Login

REVIEW VENEDIG: „The Brutalist“

Erstaunliches Epos über einen visionären Architekten, der nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA Fuß zu fassen versucht und von einem Industriellen ein Angebot erhält, das er nicht Ablehnen kann.

„The Brutalist“ von Brady Corbet (Credit: Focus Features)

CREDITS: 
Land / Jahr: Großbritannien 2024; Laufzeit: 215 Minuten; Regie: Brady Corbet; Drehbuch: Brady Corbet, Mona Fastvold; Besetzung: Adrien Brody, Felicity Jones, Guy Pearce, Joe Alwyn, Raffey Cassidy, Stacy Martin, Emma Laird, Isaach De Bankolé, Alessandro Nivola; Verleih: Universal

REVIEW:
Jetzt wissen wir, dass die ersten Filme von Schauspieler Brady Corbet als Regisseur nur die Fingerübung waren, die Vorbereitung und Einstimmung auf das Meisterwerk, das immer schon in ihm steckte: „The Brutalist“ trägt zwar spürbar die Handschrift des Machers von „The Childhood of a Leader“ von 2015 und „Vox Lux“ von 2018, lässt sich vielleicht sogar als Abschluss einer Trilogie betrachten, ist aber auf einer viel größeren Leinwand aufgetragen, gewagter und gewaltiger in Größe und erzählerischem Ansatz, ein Film, der sich reckt und streckt und nach den Sternen greift, transformatives Kino, das sich nicht zufrieden gibt mit dem Status Quo. Er holt tief Luft, breitet seine Schwingen aus… und hebt ab. Allein die Laufzeit von 215 Minuten, inklusive einer perfekt abgestimmten und von Motiven der Filmmusik begleiteten 15-minütigen „Intermission“ ziemlich genau zur Hälfte (deren Countdown in den letzten zehn Sekunden in der Pressevorführung von rhythmischem Klatschen und lautstarkem Mitzählen begleitet wurde – der schönste Moment des Festivals bislang), kündet von der Ambition Corbets: ein Film, der in Zukunft genannt werden will mit den großen und immer auch elektrisierend größenwahnsinnigen amerikanischen Epen, mit „Giganten“, „Apocalypse Now“, „Heaven’s Gate“, „There Will Be Blood“, expansiv und Welten erschaffend, aber immer spürbar persönlich und intim. 

Alles an „The Brutalist, geschrieben von Corbet gemeinsam mit seiner Ehefrau Mona Fastvold, die mit ihrer Regiearbeit „The World to Come“ 2020 in Venedig im Wettbewerb gelaufen war, ist ungewöhnlich, eigen, anfangs vielleicht sogar eigenartig, angeordnet in unkonventionellen Schnittkaskaden, begleitet von einem superlativen Score von Daniel Blumberg, voller jazziger Bebop-Kadenzen und atonaler Musique Concrete im Stil von Scott Walker (der die Musik zu Borbets erstem Film geschrieben hatte und dessen Produzent wiederholt mit Blumberg gearbeitet hat), und, last but definitely not least, gefilmt in prachtvoller 70mm-VistaVision (Beifall in der PV bei Einblendung der entsprechenden Logokarte zu Beginn des Films) von dem fabelhaften britischen DP Lol Crawley, ein Wegbegleiter Corbets von Anfang an: Wie er mit klugen Unschärfen arbeitet und dem Film eine Größe verleiht, die das vermutlich eher überschaubare Budget Lügen straft, ist eine nicht zu unterschätzende Meisterleistung – einmal ganz abgesehen davon, dass „The Brutalist“ nicht nur prächtig aussieht, sondern immer stimmig und stimmungsvoll ist, ob es nun dramatische Momente auf engem Raum sind oder kolossale Außenansichten, die den epischen Rahmen bestimmen.

Deutlich spürbar und auch dramaturgisch erkennbar ist „The Brutalist“ wie in zwei Bücher aufgeteilt, getrennt von besagter Pause, als habe der Film selbst sich bereits eine Fortsetzung geschenkt. Von 1947 bis 1953 geht Teil eins. Darin wird erzählt, wie der (fiktive) begnadete ungarische Architekt und Holocaust-Überlebende Laszló Tóth – Adrien Brody endlich wieder in einer Rolle, die seinem Talent entspricht – in Amerika ankommt und nach schwierigem Start die Bekanntschaft mit dem schwerreichen Industriellen Van Buren, großartig: Guy Pearce, macht, der ihm ein Angebot unterbreitet, das er nicht ablehnen kann: Mitten in der Provinz soll er auf einem Hügel im Gedenken an Van Burens geliebter und gerade verstorbener Mutter einen gewaltigen Gebäudekomplex errichten – alsbald beginnen sich geniale Vision und deren tatsächliche Umsetzung aneinander zu reiben. Von 1953 bis 1960 reicht Teil zwei. Darin kommen Tóths Frau Erszebeth, gespielt von Felicity Jones, und seine Nichte Szófia endlich nach Amerika zu Laszló, was dessen ohnehin schon prekäre Situation noch weiter zuspitzen lässt. Seine Heroinabhängigkeit und eine Reise nach Italien zu den Marmorminen von Carrera sind die entscheidenden Motoren für eine nicht mehr aufzuhaltende Eskalation.

Von Triumph und Scheitern erzählt „The Brutalist“ – wie es sich für ein vernünftiges Epos gehört. Er macht es aber auf eine Weise, wie es vor ihm noch kein Film getan hat, bestenfalls vergleichbar mit „There Will Be Blood“, vielleicht noch „The Master“, beide von Paul Thomas Anderson. Der erste, leichter zugängliche und auf den ersten Blick mitreißendere Teil ist absolut unwiderstehlich, entfaltet eine narrative Sogwirkung, der man sich nicht entziehen kann, eine klassische Erfolgsgeschichte, nur eben mit einer anderen Form der Narration und einer tatsächlich neuen Bildsprache, deutlich auch eine Verbeugung und Variation von Ayn Rands „Der ewige Quell“. Teil zwei ist nicht an einer Fortsetzung interessiert, sondern bricht auf, was bisher so erfolgreich als Struktur funktioniert hatte. Wird einerseits persönlicher, intimer, Szenen einer Ehe, Chronik einer privaten Höllenfahrt, einer architektischen Vision, die ihren Schöpfer zu verzehren droht, andererseits nimmt der Film immer stärker einen allegorischen Charakter an, wandelt sich sehr gezielt zu einer universellen Erzählung über aus Europa geflüchtete Juden, die nach ihrer Ankunft in der neuen Heimat von Amerika ausgenutzt und in diesem Film in einer schockierenden Szene buchstäblich vergewaltigt werden. Enigmatisch und undurchsichtig ist „The Brutalist“, uninteressiert darin, seinem Publikum zu gefallen, nur sich und seiner Aussage verpflichtet. 

Da hätte es sich Brady Corbet leichter machen können, aber gerade diese Verweigerung macht das Konstrukt so unendlich interessant, als würde man in einem Spiegelsaal immer neue Ausschnitte und Schattierungen sehen – ähnlich wie die lamellenartige Bücherwand, die Lászlo Tóth ziemlich zu Beginn des Films entwirft. Blitzartig kann die Stimmung umschwenken, wie es die von zart und naiv hin zu bedrohlich und zerstörerisch wirkende Musik vorexerziert. In dem vielleicht überwältigendsten von vielen überwältigenden Bildern sieht man aus der Himmelswarte, wie ein Zug in einem Wolkenfeld verschwindet, das dann wie ein Feuer auflodert: Hat man ein Zugunglück schon einmal so gefilmt gesehen? Der Held ist kein Sympathieträger. Dass er von Adrien Brody gespielt wird, der den Oscar für seine Darstellung eines Holocaust-Überlebenden in „Der Pianist“ gewonnen hatte, unterfüttert die Figur, über die man erst im 1980 auf der Kunst-Biennale in Venedig angesiedelten Epilog mehr erfährt, wenn sich auf einmal seine verrätselnden Handlungen erklären und man weiß, was seine künstlerische Vision tatsächlich speist. So ist „The Brutalist“ immer auch ein Film über Kunst, über den künstlerischen Funken, die Umsetzung einer Vision, das Bedürfnis, aus sich heraus etwas Neues und Bleibendes zu erschaffen. Wie es Brady Corbet hier gelungen ist. 

Thomas Schultze