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VENEDIG-Snapspot 2: Was man alles fürs Kino tut

Vier Tage läuft die 81. Mostra in Venedig bereits. Weil Alberto Barbera in diesem Jahr viele der Highlights in die zweite Woche gelegt hat, ist noch nicht ganz klar, wie man das Festival einschätzen soll. Barbara Schuster und Thomas Schultze stimmen jedoch überein: Uns gefällt es. 

„Babygirl” Nicole Kidman (Credit: Imago/NurPhoto)

Thomas Schultze: Vier Tage haben wir jetzt fast hinter uns auf der 81. Mostra. Heute Abend gibt es für die Presse noch „The Brutalist“ von Brady Corbet, der im Vorfeld und ungesehen als einer der großen Favoriten auf Löwenehren gehandelt wurde. 215 Minuten plus 15-minütiger Pause. Genau das, was man nach den anstrengenden ersten Tagen braucht. Ganz ehrlich: So richtig zu sich gefunden hat das Festival meiner Meinung noch nicht. Und doch lässt sich erkennen, wie klug Alberto Barbera seine Auswahl zusammengesetzt hat, wie die Filme stimmig aufeinander folgen oder eben krasse Gegensätze bilden. Und klar, echte Highlights gab es auch schon. Für mich rangieren aktuell zwei deutsche Produktionen ganz oben: „September 5“ und „Riefenstahl“. Allenfalls „Babygirl“, die große Überraschung bisher, hat mir noch einen Tick besser gefallen. Wie siehst Du das, Barbara?

Barbara Schuster: Erst mal kurz zu meinen Favoriten: „Babygirl“ steht aktuell ganz oben. Ich finde den einfach irre, irre mutig auch von Nicole Kidman, sich so entfesselt zu zeigen, sich so in die Hände dieser tollen Filmemacherin Halina Reijn zu begeben. Und ganz ehrlich: Harris Dickinson 😍. Die Tanzszene zu George Michaels „Father Figure“ ist einfach DER HAMMER. Die Wettbewerbsfilme bestechen durch ihre Unterschiedlichkeit. „Kill the Jockey“ war schräg, aber auf eine faszinierende Art und Weise, ganz nah am absurden Theater eines Ionescu. „Trois amies“ erzählt viel übers Leben, über Freundschaft und über Beziehungen, aber schön unaufgeregt, ein dahinplätschernder Reigen, der irgendwie auch was von David Dietls „Feste Freunde“ hat (den wir ja auf den Filmtagen Köln schon sehen durften). Sehr gefallen hat mir heute Gianni Amelios „Battleground“, der zwar am Ende des Ersten Weltkriegs spielt, aber durch das Thematisieren der Spanischen Grippe einen starken Bezug zur Coronapandemie herstellt. Ob das Festival schon zu sich gefunden hat? Mmmm. Schwierig zu beantworten. Ich bin ja jemand, der sich vorab überhaupt nicht informiert über die Filme. Ich buche die Tickets, setze mich auf meinen angestammten Platz und lasse mich überraschen. Und das gelingt Alberto Barbera total! Den von dir angesprochenen „The Brutalist“ hast du mir mit der Laufzeit etwas madig gemacht… Vier Stunden? Das wird brutal… Da bist du ja anders konditioniert… gell…

Thomas Schultze: Der angestammte Platz. Ja. Ich gestehe, da zwanghaft zu sein. Was dazu führt, dass ich kein Problem habe, mich auch schon eine Stunde in die Schlange zu stellen, damit man dann auch wirklich freie Wahl hat (und dann jedes Mal hoffen muss, dass bei den Kollegen, die sich um einen herum setzen, das Deo nicht versagt hat – was bei der Affenhitze hier in Venedig gerne mal vorkommt). Das führt dazu, regelmäßig auf verwandte Seelen zu stoßen und schöne Gespräche zu führen. Karel Och, Festivalchef von Karlovy Vary, sagte gestern zu uns: Das frühe Anstehen gehöre für ihn elementar zur Kinoerfahrung. Für ihn bedeute das, Respekt vor dem kommenden Film zu bekunden. Okay. Kaufe ich. Aber zurück zu „The Brutalist“… Ja, auch ich lasse mich überraschen. Bisher bin ich kein so großer Fan von Brady Corbet und dessen Frau Mona Fastvold, die gemeinsam das Drehbuch geschrieben haben, wie es Alberto Barbera zu sein scheint. „Vox Lux“ fand ich zuletzt formal interessant und visuell aufregend, aber zu keinem Moment zwingend. Ich würde mir wünschen, dass Corbet JETZT als Filmemacher endlich zu sich und seiner Stimme findet. Heute Abend können wir beurteilen, ob der Film seine Vorschusslorbeeren wirklich verdient hat. Gibt es für Dich denn schon Löwen-Anwärter, liebe Barbara – also über „Babygirl“ hinaus?

Barbara Schuster: Am vierten Festivaltag schon Löwenanwärter:innen zu benennen, ist gemein. Nein, das geht nicht. Ich würde aktuell alle Preise „Babygirl“ geben – und das macht ja keinen Sinn. Ich muss noch überlegen, was ich von Justin Kurzels „The Order“ halte, den wir heute gesehen haben. Jude Laws schauspielerische Leistung war schon stark. Da wäre ein Darstellerpreis durchaus drin. Jude Law war in der PK heute so schön direkt. Es werden ja durchaus saublöde Fragen gestellt (sorry, liebe internationale Kolleg:innen). Aber auf die Frage, wie sie (die Darsteller) persönlich umgehen würden, wenn sie mit der Art von Hass konfrontiert werden würden, wie sie Bob Matthews (gespielt von Nicholas Hoult) in „The Order“ zeigt, sagte er in einer schönen trockenen britischen Art: „Der Film spricht für sich selbst. Es geht nicht um unsere persönlichen Erfahrungen, wie wie reagieren würden, wenn wir jemanden wie Bob Matthews treffen würden.” Oft besteht auch nur das Bedürfnis, vor dem anwesenden Filmteam seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen, wie berührt man gewesen sei, wie zu Tränen gerührt. Super war auch der Hinweis einer Kollegin in der PK von „Babygirl“, dass ja nur wenige wüssten, dass Sophie Wilde Australierin sei und ob das Nicole Kidman deshalb besonders getaugt hätte. Und sorry, wenn ich das hier sage, aber wenn Journalistinnen anfangen, auf allen Vieren den Gang vorzukrabbeln, um ein Handyfoto zu schießen, ist das ziemlich schrägt, vor allem, wenn die Person auch noch einen kurzen Rock trägt 😂. Und Krabbeln bei älteren Damen sieht halt nicht mehr so putzig aus wie bei Babys…

Thomas Schultze: Vermutlich sehen sie eher so aus wie Michael Keaton in „Beetlejuice Beetlejuice“, von dem man halten mag, was man will, aber Tim Burtons wunderbar morbide Komödie war der perfekte Eröffnungsfilm in dieser wunderbar morbiden Stadt. Es war eben sofort Stimmung da, gute Laune, Lust auf mehr. Da kann man einiges lernen. Wink-wink. Aber wie schon Christoph Gröner und Julia Weigl, das Leitungsduo des Filmfest München, zu uns sagten, die zum ersten Mal auf der Mostra sind: „Warum habt Ihr uns nicht gesagt, wie super dieses Festival ist?“ Hiermit sei es geschehen. Dabei ist es doch besser, Venedig selbst zu entdecken. Ungelöst für uns ist übrigens das Problem, was wir immer am Morgen machen sollen: Unser angestammtes Café hat nicht mehr um 7 Uhr morgens geöffnet, sondern macht erst um 8 Uhr auf. Wenn wir bereits mit Karel Och in der Schlange stehen. Die Filme gehen vor. Eben.