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REVIEW FESTIVAL: „Riefenstahl“

Fesselnder Dokumentarfilm über die umstrittene Filmemacherin Leni Riefenstahl, der anhand der Dokumente aus ihrem Nachlass eine faszinierende Innenansicht bietet.

„Riefenstahl“ von Andres Veiel (Credit: Majestic)

FAST FACTS:
• Dokumentarfilm über die bis heute umstrittenste Filmemacherin Deutschlands
• Neue Einblicke in Innenleben und Motivation von Leni Riefenstahl
• Riefenstahls persönlicher Nachlass als Fundgrube für Recherchematerial
• Weltpremiere außer Konkurrenz auf der 81. Mostra in Venedig

CREDITS:
Land / Jahr: Deutschland 2024; Laufzeit: 115 Minuten; Regie & Buch: Andres Veiel; Verleih: Majestic (Paramount); Start: 31. Oktober

REVIEW:
Erinnerungen ist das einzigste Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Eine handschriftliche Notiz von Leni Riefenstahl neben einer Reihe von Bildern von Dreharbeiten eines ihrer frühen Filme als Schauspielerin. Sie wird nur eine, vielleicht zwei Sekunden gezeigt, ganz beiläufig, ohne besonders darauf hinzuweisen. Und doch kann man diese Notiz nicht vergessen, denkt immer wieder an sie, während man „Riefenstahl“ sieht, Andres Veiels erster Dokumentarfilm seit „Beuys“ im Jahr 2017, entstanden für Produzentin Sandra Maischberger und ihrer Vincent Productions im Verlauf mehrerer Jahre, die es bedurfte, ihren Nachlass zu sichten, ordnen und arrangieren, sich einen Reim darauf zu machen, wie viel davon genuin ist, was vielleicht gesäubert, aufbereitet für die Nachwelt. Weil es Leni Riefenstahl immer um genau diese Erinnerungen geht, wie sie in der Nachbetrachtung in der Öffentlichkeit gesehen werden könnte, wie man ihre Handlungen werten könnte. Wie auch immer man sie kritisiert haben mochte nach dem Ende des Dritten Reichs, was immer man ihr vorwerfen wollte, sie hat darum gekämpft, die Deutungshoheit über ihre Biographie und Beweggründe zu behalten, mit einem Furor, der zunehmend an Obsession grenzt und – und auch das zeigt der Film – sie mit der Zeit zu verzehren droht.

Gleich zu Beginn arbeitet „Riefenstahl“ mit Unschärfen, übereinander gelegten Bildern und Bewegtbild von Leni Riefenstahl, von Aufmärschen der Nationalsozialisten und dem Führer selbst, gegengeschnittenen mit Filmmaterial, das durch einen Projektor läuft. Um eine Schärfung wird es in der Folge gehen, den Versuch, genauer zu sehen, auch um eine Neubewertung dessen, was man über Leni Riefenstahl weiß, wie sie eingeschätzt wird, diese auch 90 Jahre nach ihren künstlerisch unbestrittenen Großwerken, die im Auftrag von Hitler und Goebbels entstanden, umstrittenste aller Filmemacherinnen, eine Pionierin der Kunstform, in einer Ahnenreihe direkt neben Griffith, Eisenstein und Chaplin, für immer beschmutzt von ihrer bereitwilligen und willfährigen Allianz mit den größten Verbrechern der Menschheit. Sie habe nicht gewusst, was in deren Namen geschehen sei, habe sich immer nur ihrer Kunst verpflichtet gefühlt, sei unwissend gewesen, unpolitisch, und habe schon gleich gar nicht das Weltbild der Nationalsozialisten geteilt, wird sie bis an ihr Lebensende behaupten, ein langes Leben lang, 101 Jahre. 

Andres Veiel begibt sich in seinem ambitionierten Film auf die Suche, bohrt und gräbt immer weiter, bemüht sich um eine Innenansicht. Er verwendet das Material aus Riefenstahls Nachlass: unzählige Fotos, handschriftliche Aufzeichnungen, ausgeschnittene Zeitungsartikel, Briefe an sie, nicht verwendetes Filmmaterial, private Super-8-Aufnahmen. Und – Büchse der Pandora! – eine Hülle von Kassetten mit mitgeschnittenen Telefongesprächen, die in vielen Fällen konterkarieren, wie sie sich sonst in der Öffentlichkeit präsentiert. Wie Veiel das Material aus dem Nachlass, 700 Kisten stark, verwendet und gemeinsam mit Szenen aus ihren Filmen und einer Vielzahl von Interviews, die sie von den Sechziger- bis in die Neunzigerjahre gibt, zu einem regelrechten Crescendo entlang ihres Lebenswegs montiert, das Leni Riefenstahls Selbstbild, ihre bisweilen wütenden, bisweilen patzigen, bisweilen flehentlichen Leugnungen, konfrontiert mit einer nicht von der zu weisenden Wahrheit, die ein anderes Licht auf ihre bockigen Behauptungen wirft, vereint journalistische Akribie mit der virtuosen Kunstfertigkeit des Filmemachers: Die Maske, die sie in der Öffentlichkeit trägt, indigniert und empört angesichts all der Ungerechtigkeit, die ihr widerfährt, mit großen Gesten, die auch Norma Desmond nicht dicker auftragen könnte, immer bereit für ihren „Close-Up“, ist nicht, kann nicht deckungsgleich sein mit der Frau, die wir in diesem Film auch ganz unmittelbar erleben, die mit Briefen und Anrufen bestürmt wird, in denen sie bewundernd gefeiert wird als Galionsfigur eines missverstandenen und aufrechten, eines charakterlich starken und sauberen Deutschlands.

Leni Riefenstahls Verblendung, so macht Andres Veiels Film deutlich, arbeitet er minuziös heraus, ist die Verblendung eines ganzen Landes, das keine Verantwortung übernehmen will, das nicht lernen will aus dem Geschehenen, das lieber wegsieht und abstreitet und damit Tür und Tor öffnet für einen neuen Blick in einen Abgrund, den man überwunden glaubte. Gänsehaut will man kriegen, wenn man Leni Riefenstahl zuhört, wie sie mit Albert Speer darüber telefoniert, wie man am meisten Geld bei den Verhandlungen für eine Autobiographie herausschlagen kann, wenn man ihren Narzissmus erlebt, wie sie sich mit grenzenloser Eitelkeit in jedem noch so zweifelhaften Lob, jedem noch so vergifteten Kompliment sonnt, wie sie standhaft abstreitet, was doch mit Fotos und Zeugenaussagen belegt ist. Weil sie nicht bereit ist, sich aus dem Paradies vertreiben zu lassen, das sie sich aus Erinnerungen zusammengebaut hat, ebenso gut kuratiert und zurechtgerichtet wie ihr Nachlass. 

Thomas Schultze