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REVIEW KINO: „Was ist schon normal?“

Blockbusterkomödie aus Frankreich über zwei Räuber, die sich auf der Flucht vor der Polizei unter eine Reisegruppe von Menschen mit Behinderung mischen.

CREDITS:
O-Titel: Un p‘tit truc en plus; Land / Jahr: Frankreich 2024; Laufzeit: 99 Minuten; Regie: Artus; Drehbuch: Artus, Clément Marchand, Milan Mauger; Besetzung: Artus, Clovis Cornillac, Alice Belaïdi, Marc Riso, Céline Groussard; Verleih: SquareOne (Paramount); Start: 5. September 2024

REVIEW:
Wenn ein Film über Monate hinweg in den französischen Kinos abräumt, sich auf dem Weg dazu befindet, die Zehn-Mio.-Ticket-Marke zu überbieten, als fünfter französischer Film in den letzten 35 Jahren, dann steht es einem Branchendienst gut zu Gesicht, alsbald in einer Besprechung zu betrachten, wie „Was ist schon normal?“ (O-Titel „Un p’tit truc en plus“ – „Ein bisschen mehr als üblich“) zum Phänomen werden konnte, warum ein ganzes Land vor Begeisterung Kopf steht. Weil die Erfahrung gezeigt hat, dass die ganz großen französischen Komödienhits auch in Deutschland für Furore sorgen können. Siehe „Willkommen bei den Sch’tis“ (2,2 Mio. Tickets). Siehe „Monsieur Claude und seine Töchter“ (3,6 Mio. Tickets). Und siehe natürlich „Ziemlich beste Freunde“ (9,6 Mio. Tickets). 

Artus mit Ferienlagerbewohnern in der Dusche
Der französische Superhit „Was ist schon normal?“ (Credit: Cine Nomine)

Und jetzt das Regiedebüt von Artus, ein in Frankreich überaus beliebter Comedian, den man in Deutschland bislang bestenfalls aus dem wenig gesehenen „Meine schrecklich verwöhnte Familie“ kennt, der 2021 in die Kinos kam. Gewiss hat der Film in Frankreich zunächst von seiner Popularität profitiert. Dass der Film in die lokale Blockbusterliga aufsteigen konnte, hat indes mit seiner Universalität zu tun: Er ist einfach eine richtig gute Komödie mit vielen herzhaften Lachern, der obendrein seine Geschichte so geschickt und lustvoll erzählt, dass man sich dem Charme und seiner ganz besonderen Machart kaum entziehen kann. Die Prämisse ist griffig, bereitet einen aber nicht darauf vor, wie entwaffnend emotional die Geschichte erzählt ist, wie liebevoll der Regisseur auf seine Figuren blickt, auf ALLE seine Figuren blickt, niemanden vergisst oder unter den Tisch fallen lässt, wie unverkennbar großherzig ihm der Kunstgriff gelingt, den Zuschauer einerseits über die saftig gezeichneten Charaktere, andererseits immer auch mit ihnen lachen lässt. Und habe ich schon gesagt, dass „Was ist schon normal“ irre lustig ist? Er ist IRRE LUSTIG.

Nach einem zunächst gelungenen Überfall auf ein Juwelengeschäft sieht es mit der Flucht des Vater-Sohn-Teams Paolo und La Fraise (Clovis Cornillac und Artus selbst) weniger gut aus, weil sie ihr Auto auf einem Behindertenparkplatz abgestellt haben und nun erleben müssen, dass es abgeschleppt wird. Wie es der Zufall will, warten die Betreuer einer Reisegruppe mit Menschen mit Behinderung auf einen letzten Nachzügler, um den bereits traditionellen Sommerurlaub auf einem entlegenen Bauernhof in der Provinz antreten zu können. Artus gibt sich als dieser besagte Nachzügler aus, sein Vater als dessen Betreuer und beide finden sich im Reisebus wieder. Startschuss für eine Verwechslungskomödie, die alles richtig macht. Weil die Behinderungen nicht sind, was die Reisegruppe anders sein lässt, sondern mit den Figuren eint, die keine Behinderung, aber vielleicht die gleichen Wünsche und Probleme haben: Wenn einer also mit seiner schrillen Stimme unflätige Flüche mit so viel Gusto herausbrüllt, als wären sie Liebesbekundungen, dann macht es ihn unverkennbar, aber was ihn auszeichnet, ist seine Bereitschaft zu unbedingter Freundschaft und Loyalität. Wenn einer sein ganzes Leben nur der Schlagerdiva Dalida gewidmet hat, dann ist das drollig, aber man sieht sich in ihm wieder, wie er sich vor Liebe für eine der Frauen mit Trisomie 21 in der Gruppe verzehrt und einfach nicht weiß, wie er sie ansprechen soll. Das zieht sich durch den ganzen Trupp, der letztlich ein Spiegelbild der Betreuer und auch der beiden Räuber ist, die ebenfalls zu kämpfen haben mit Entscheidungen und unerwiderten Gefühlen. 

Das macht „Was ist schon normal?“ besonders, das nimmt einen für den Film ein, dem man ansieht, dass er offenkundig aus einer Versuchssituation in langer, liebevoller Arbeit heraus entstanden ist, aus den Spleens und Auffälligkeiten der Darsteller mit Behinderung, die sich im Grunde selbst im wahrsten Sinne des Wortes spielen, anstatt dass sie einem Drehbuch folgen müssten. Es ist ein Film über das Miteinander, über das aufeinander zugehen und einfach akzeptieren, wie man ist, nicht als Botschaft oder Lehre, sondern als Basis für die ganze Unternehmung, die obendrein ein richtig guter Film mit schönen Einfällen geworden ist. Ziemlich exakt in der Mitte hält die Geschichte inne, und die Kamera fährt an den schlafenden Figuren vorbei und hält kurz fest, an welcher Stelle der Reise sich jeder einzelne gerade befindet, während im Off „Parole“ von Dalida und Alain Delon zu hören ist. Während sich die Handlung zuspitzt, die einzelnen Figuren nach und nach gezwungen sind, Farbe zu bekennen oder Entscheidungen zu treffen, und die Polizei den beiden Räubern doch noch auf die Spur kommt, schneidet der Film immer wieder auf den einen Menschen mit Behinderung, Sylvain, der zu spät gekommen ist: Er erlebt das Abenteuer seines Lebens, weil er wiederum in einem Bus mit Partypeople gelandet ist: Auch das ist normal in diesem Film, an dem alles besonders ist, Inbegriff eines Feelgood-Movie, in dem man sich wohlfühlt, weil es verdient ist.

Thomas Schultze