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REVIEW FESTIVAL: „Die Ermittlung“

Erste Kinoverfilmung des Theaterstücks von Peter Weiss aus dem Jahr 1965, das anhand der Aussagen im Frankfurter Auschwitzprozess präzise Zeugnis ablegt von den Ereignissen in dem Vernichtungslager.

CREDITS:
Land / Jahr: Deutschland 2024; Laufzeit: 240 Minuten; Regie: RP Kahl; Drehbuch: Peter Weiss; Besetzung: Rainer Bock, Clemens Schick, Bernhard Schütz, Tom Wlaschiha, Andreas Pietschmann, André Hennicke, Peter Lohmeyer, Nicolette Krebitz, Christiane Paul, Sabine Timoteo; Verleih: Leonine; Start: 25. Juli 2024

REVIEW:
Kunst muss die Kraft haben, das Leben zu verändern. Hat Peter Weiss einmal gesagt, der deutsch-schwedische Schriftsteller und Dramatiker, zu dessen Hauptwerk das 1965 uraufgeführte Stück „Die Ermittlung“ zählt, ein „Auschwitz-Oratorium“, aufgeteilt in elf Gesänge, das den ersten Frankfurter Auschwitzprozess mit den Mitteln des dokumentarischen Theaters thematisiert. An Weiss‘ eingangs genannte Aussage knüpft RP Kahl an mit seiner ersten Verfilmung des Stoffs fürs Kino, produziert von Alexander van Dülmen. Es ist eine strenge Adaption, eine ernsthafte Auseinandersetzung, ein ultimatives Statement, nur der Vorlage verpflichtet, sachlich, nüchtern, der Regisseur selbst tritt komplett zur Seite: eine Bühne, vier Stunden, kein Schnickschnack, keine Mätzchen. Nur Schauspieler, mehr als 60 an der Zahl, die auftreten und die Texte aufsagen, die der Dramatiker eins zu eins aus den Gerichtsprotokollen übernahm, aber durch ihre Anordnung kunstvoll verdichtete, Dokumentation erzielte und gleichzeitig künstlerische Interpretation, Haltung pur zu einem Ereignis, das damals, in den frühen Sechzigern, einen epochalen Wendepunkt in der noch jungen Bundesrepublik Deutschland markierte, das eisige Schweigen zum größten Verbrechen der Menschheit brach, maßgeblich zur Vergangenheitsbewältigung beitrug. Unmissverständlich impliziert Weiss die deutsche Gesellschaft: Schuld haben nicht nur die, die die Endlösung der Judenfrage umgesetzt, sondern auch die, die sie ermöglicht und nicht verhindert haben.

„Die Ermittlung“ von RP Kahl (Credit: Leonine)

In elf „Gesängen“ folgt „Die Ermittlung“ der Ankunft der Menschen an der Rampe bis zu den Krematorien, immer brutaler und unnachgiebiger werden die Aussagen. Namenlos sind die Zeugen, die auftreten, die stellvertretend für Viele Zeugnis ablegen. Ihnen gegenüber sitzen Richter, Anwälte und natürlich die Angeklagten, die mit Realnamen auftreten und deren höhnisches Gelächter und Zwischenrufe die einzige künstlerische Verfremdung darstellen. Am Anfang sieht man einen Blick auf die Bühne von außen, die die kommenden 240 Minuten der einzige Schauplatz sein wird. Im Film ist sie schwarz gehalten, um nicht von den Schauspielern und den Texten abzulenken. Der Richter, gespielt von Rainer Bock, sitzt an einem stilisierten Tisch, schräg hinten haben die Angeklagten auf Stühlen Platz genommen und sitzen da wie ein Orchester. An den Seiten sitzen der Staatsanwalt, gespielt von Clemens Schick, und der Rechtsanwalt, gespielt von Bernhard Schütz. In der Mitte treten die Zeugen auf. Alle sind unauffällig gekleidet in Straßenklamotten der Zeit. Gespielt werden sie teilweise von sehr namhaften Schauspier:innen, zu denen Nicolette KrebitzChristiane PaulAndré HennickePeter LohmeyerAndreas Pietschmann und Tom Wlaschiha gehören. Was sie sagen, hat nichts von der von Peter Weiss intendierten Wirkung verloren. Es ist zeitlos, weil es zwar um ein spezifisches Ereignis geht, das eindeutig zeitlich und örtlich zuzuordnen ist, aber doch elementare Dinge verhandelt werden. Immer intensiver wird das Erzählte mit zunehmender Dauer, es strebt einem Höhepunkt, einer Entlarvung aber keiner Katharsis, obwohl der Film doch nie vom von Peter Weiss vorgegebenen Text abweicht.

Man will ja so kurz nach „The Zone of Interest“ nicht schon wieder die von Hannah Arendt apostrophierte „Banalität des Bösen“ bemühen, aber es ist doch unverändert eine so präzise Beschreibung für diese Anhäufung von Grausamkeit, Brutalität und das, was man ganz hilflos Unmenschlichkeit nennt, obwohl es doch offenkundig Menschen waren, die diese Taten wie selbstverständlich begingen. Wenn man sie lässt, werden sie Dinge tun, die so schrecklich sind, dass sie jeder Beschreibung spotten. Außer das „Die Ermittlung“ genau das tut und den Zuschauer dabei nicht eine Sekunde aus der Verantwortung entlässt. Anders als die letztjährige Serie „Deutsches Haus“, in deren Mittelpunkt ebenfalls die Frankfurter Auschwitzprozesse stehen, die aber eben vor allem untersuchen will, was dieses beispiellose Ereignis in der deutschen Geschichte mit den Menschen gemacht hat, schneidet RP Kahls Film nicht weg, gönnt einem keine Ausflucht, keine Atempause. Man ist mit dabei auf der Bühne, ist unmittelbar konfrontiert und gezwungen zur Auseinandersetzung, zum Begreifen, zur Erkenntnis. Das ist wenig überraschend keine leichte Kost. Will es auch niemals sein. Aber es ist elementare Kost. Und darauf kommt es an.

Thomas Schultze